Cover des Buches Ein gutes Mädchen (ISBN: 9783351035747)
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Rezension zu Ein gutes Mädchen von Jennifer duBois

Schuldig, im Sinne von Vermutungen

von inflagrantibooks vor 10 Jahren

Kurzmeinung: Weniger wäre manchmal mehr gewesen. Schade. Dabei waren die Charaktere sehr komplex und eigenwillig.

Rezension

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inflagrantibooksvor 10 Jahren
Wie der Klappentext schon genügend aufklärt, hat sich Jennifer duBois stark mit dem Fall von Amanda Knox befasst, der sich schon seit Jahren durch die Presse zieht und immer noch die alles entscheidende Antwort auf die Frage „Was passierte WIRKLICH in jener Nacht?“ sucht.
Genau DAS hat sich Jennifer duBios für ihren Roman zu Gute gemacht und ihren ganz eigenen Fall, mit ihren ganz eigenen Protagonisten, ihrer ganz eigenen Handlung und ihrem SEHR eigenen Erzählstil als Geschichte verwirklicht.

Die Grundlage von „Ein gutes Mädchen“ ist relativ simpel:
Amerikanische Studentin beginnt zwecks Studium ein Semester im Ausland. Da sie sprachlich recht begabt ist, kommt sie mit dem Lebensstil dort gut zurecht. Ihre Eltern hatten zwar bedenken, wollten aber ihrer ältesten Tochter die Freiheit geben, selbst zu entscheiden, und ließen sie daher gehen. Und diese eigene Entscheidung endete fatal, als ihre Mitbewohnerin, die ebenfalls ein Auslandssemester dort macht, in jener folgenschweren Nacht ermordet wurde. Da die Beweislast mehr als erschlagend für Lily ist, wird sie festgenommen, und die Verhandlungen über schuldig oder nicht nehmen ihren Lauf.

„Ein gutes Mädchen“ macht nichts falsch. „Ein gutes Mädchen“ bezichtigt man nicht des Mordes. Doch ist die Hauprotagonistin hier wirklich „Ein gutes Mädchen“? Oder bezieht sich der Titel doch eher auf das Mädchen, welches hier ermordet wurde?

Fangen wir doch mal bei der größten Stärke des Buches an:
Die Autorin erlaubt ihren Leser, in die verschiedensten Köpfe hineinzuschlüpfen. So haben wir allerhand Sichtweisen, und jede davon wurde benötigt und trug ihren Teil bei, um das Geschehene an den Leser zu bringen. Es ist wichtig zu erfahren, was passierte und wie die Beweislast für die Protagonistin sprach. Der Startschuss im Buch begann ja bereits mit der Schuldzuweisung auf Lily, jetzt stellt sich aber die Frage: Wie konnte es so weit kommen? Kam es überhaupt dazu? War sie zu sowas überhaupt fähig?

Jede aufgegriffene Sichtweise der Charaktere hat seine Geschichten, seine Vergangenheit, seine ganz eigene Meinung darüber, ob Lily unschuldig ist oder nicht. Und diese Sichtweisen wechseln von Kapitel zu Kapitel, bis wir als Leser dann endlich in Lilys Kopf hineintauchen dürfen.
Das interessante an diesen Sichtweisen ist die Art und Weise, wie diejenigen, Lily und Katy sehen und wie sie für den Fall wichtige Situationen beurteilen. So tauchen Vorurteile auf, man denkt negativer, als wie es die Person tatsächlich gemeint hatte und Lily wird anhand von Oberflächlichkeiten dem Volk zum Fraß vorgeworfen.

Über Jennifer duBios schreiberisches Können muss man nicht lange nachdenken: Es springt einen in jedem Satz entgegen und ist vielleicht nichts für den Otto-Normal-Leser. Anspruchsvoll trifft auf Qualität und erschafft eine Wortgewandtheit, die ich nur beloben kann. Doch reicht das schon aus, um Erfolg mit seiner Geschichte zu haben?

Hier muss man auf seine eigenen Vermutungen vertrauen, die sich nur entwickeln, wenn man das komplette Geschehen mit all seinen Sichtweisen aufmerksam verfolgt. Dabei ist es für mich nicht immer einfach gewesen, das Geschehen mit anhaltendem Interesse zu verfolgen. Die Autorin konzentrierte sich oftmals etwas zu stark mit den Hintergrundgeschichten der Protagonisten, was an sich nicht verkehrt war, aber zu langweilig, spannungslos und zu überladen bei mir ankam.

Ich bin der Letzte, der Autoren kritisiert, wenn sie etwas erzählen MÜSSEN. Wirklich. Aber die Autorin hat hier doch etwas zu tief in die Charakterschublade gegriffen und das eigentliche Geschehen, den Mordfall, dadurch meiner Meinung nach stark in den Hintergrund gerückt. Auch wenn es der Autorin vielleicht darum ging, durch die Hintergrundgeschichten der Charaktere Bilder zu vermitteln, die benötigt werden, um das Verhältnis zwischen Lily und Katy besser verstehen und einschätzen zu können:

Weniger wäre manchmal mehr gewesen. Schade. Dabei waren die Charaktere sehr komplex und eigenwillig, wodurch sie automatisch selbst im Kreis der Verdächtigen bei mir landeten, was aber durch die häufig langen Erzählungen nicht mehr so interessant und spannend ankam, als wie es anfangs der Fall war.

Eins muss hier auch klar gestellt werden, denn ich finde es nur gerecht, wenn ich euch darauf hinweise:
Hier spielt der Leser selbst die Jury, denn am Schluss, wie bei dem Fall von Amanda Knox, kann man nie sicher sein, was nun wirklich passierte. Die Autorin ließ das Ende in meinen Augen zu offen. Einerseits kann ich nicht leugnen, dass mir davor aufschlussreiche „Sichtweisen“ und „Beweise“ geliefert wurden. Gerade die Perspektiven wie z.B. die ihres Vaters Andrews, und die Art und Weise, wie er über den Fall dachte und wie er seine Tochter bei allem verteidigte. Er glaubte von Beginn an ihre Unschuld und konnte es nicht fassen, wie ihre Taten, die mehr kindlicher und verängstigter Natur waren, missverstanden und gegen sie verwendet wurden. Aber als Vater sah er vielleicht nur das, was er unbedingt sehen wollte, und dem Leser bleibt genug Spielraum, um sich gegen Ende ein Gesamtbild über ihn zu bilden.
Hinzu kommt noch die Familiengeschichte, die Bürden, die die Töchter seit der Kindheit zu tragen hatten und der Druck, der sich in den Jahren aufbaute.
Aber auch die anderen Charaktere versprechen eine starke Charakterpräsenz, die ich so auch eher selten nachlesen durfte.

Dennoch legte mir die Autorin leider für die Auflösung des Falls nicht wirklich hilfreiche Indizien und „Beweisansichten“ vor die Augen, sodass ich stark unzufrieden das Buch beendete. Ich konnte mir ein klareres Bild über Lily machen, die am Anfang doch sehr kalt und teilnahmslos von allen anderen gesehen und beschrieben wurde. Ich verstand ihr Inneres, konnte nachempfinden, wieso sie so war, wieso sie andere manchmal so behandelte.
Die Autorin hat das hervorragend zur Schau gestellt, mit dem bitteren Beigeschmack der anderen Sichtweisen, die Lily oftmals anders sahen, als wie ich es als Leser in ihrer eigenen Sichtweise miterleben durfte.

Mit gemischten Gefühlen kann ich jetzt vielleicht behaupten, dass es keine Rolle spielte, wer Katy, das in den Augen der Presse „arme Opfer“, ermordete. Es ging nur darum, wie die Hauprotagonistin in all das hineinrutschte und wie ein Vorurteil nach dem anderen dafür sorgte, dass man sie als Schuldige festnahm. Wie ihr Leben dadurch zerstört wurde. Aber es reichte mir nicht, denn auch hier ging es etwas durch das meist zu viel erzählte in den anderen Sichtweisen unter. Ja, man merkt, dass mich das nicht in Ruhe lässt, denn gerade DAS rückt einige, gut inszenierte Stellen stark in den Hintergrund.

Fazit:

„Was geschah wirklich in jener Nacht?“
„Wer ermordete Katy Keller?“
„Ist die Hauptprotagonistin schuldig oder unschuldig?“

Fragen, die sich der Leser schon vor dem Lesen des Buches stellt, leider aber nicht wirklich beantwortet wurden. Es spielt vielleicht für andere weniger eine Rolle, doch ich hatte Antworten erwartet und kann mit meinen auf den Tisch gelegten „Schlüssen“ wenig anfangen. Man muss sich anhand der eigenen Schlussfolgerung ein Bild vom Geschehenen machen, was Andere, die nicht Ich sind, durchaus gefallen könnte. Zudem erschuf Jennifer duBios hier interessante und komplexe Protagonisten, die man mehr oder weniger ins Herz schließt oder lernt, zu verabscheuen. Dinge sind nicht immer so, wie sie auf dem ersten Blick von anderen gesehen werden. Es liegt in der menschlichen Natur, voreilige Schlüsse zu ziehen, Menschen zu schnell zu verurteilen, und genau die negativen Seiten dieser menschlichen Natur wurde hier hervorragend zur Schau gestellt.

Ein Buch, das seine Guten und weniger guten Seiten präsentiert, ohne dass ich als Leser ins Geschehen eingreifen konnte. Und das schmerzte an manchen missverstandenen Momenten wirklich sehr.

Bewertung:
ARGH! Ich tu mich wieder mal schwerer, als es eigentlich sein müsste. Aber es war für mich unausgereift, unvollständig und an den falschen Stellen too much, trotz den guten Seiten. Daher sehr gute und verdiente 3 von 5 Marken.

Es grüßt
~ Jack
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