Cover des Buches Heimsuchung (ISBN: 9783821857732)
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Rezension zu Heimsuchung von Jenny Erpenbeck

Rezension zu "Heimsuchung" von Jenny Erpenbeck

von HeikeG vor 16 Jahren

Kurzmeinung: "Heimsuchung" ist ein anmutiges, episches wie poetisch verdichtetes Lesevergnügen der menschlichen Suche und Sehnsucht nach Heimat, in dem d...

Rezension

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HeikeGvor 16 Jahren
Heimstatt, Heimweh, Heimatlos, Heimgehen… Heimat Eine Definition des Begriffes Heimat zu geben ist sicherlich schwierig. Unterschiedliche Erlebnisse und Erinnerungen formen dabei die persönliche Erklärung. Heimat muss keine lokale Prägung haben, sondern ist eher eine Beziehung zwischen Mensch und Raum. Zwar hat Jenny Erpenbeck in ihrem großartigen Roman "Heimsuchung" eine ganz konkrete Heimstatt, nämlich ein Haus am Märkischen Meer in Mecklenburg ausgewählt, aber auch ihre Bewohner definieren den Begriff Heimat jeder auf andere Art und Weise. Dieses Haus, errichtet in den 20er Jahren und bewohnt bis zur Jahrtausendwende, dient der Autorin gleichfalls nur als Hülle, als Rahmengerüst für ihr kunst- und genussvolles Wortgemälde. Am Ende verfällt es, wird abgerissen. Anhand von zwölf Einzelschicksalen erzählt Erpenbeck die Suche und Sehnsucht des Menschen nach Heimat. Dabei streckt sie den eigentlich unbedeutenden Zeitraum um eine Zeitspanne von achtzig Jahren, beginnend in den Zwanzigern. Ein Berliner Architekt, ein jüdischer Tuchfabrikant und ihre Familien und Schicksale rankt Erpenbeck um dieses Haus und das Grundstück. Mit kurzen, prägnanten Sätzen, die sich von Zeit zu Zeit wiederholen, erzeugt die Autorin eine derart gefühlsmäßige Durchschlagkraft, die beinahe einem emotionalen Knockout gleichkommt, dass dem Leser der Atem stockt, Manchmal ist weniger mehr! Und so verfolgt der Leser die wechselnden Besitzer der Räumlichkeiten, betritt mal dieses, mal jenes Zimmer, erfährt etwas über Frau des Architekten, die Kinder des Juden, die einmarschierenden Rotarmisten. Als wiederum der Architekt ein paar Jahre später selbst vor dem DDR-Regime flieht, finden neue Bewohner Heimstatt im Haus, so die aus dem Exil heimkehrende Schriftstellerin, die wiederum der polnischen Mutter ihres Schwiegersohnes eine neue "Heimat" gewährt. Diese gehört zu der melancholischsten, gleichzeitig jedoch schönsten Erzählung Erpenbecks. Trotz des traurigen Untertons ist eine stille Freude darin. Großartige Worte wie Musik. Verbindendes Glied und Einschub hinter jedem Einzelschicksal ist der Gärtner, der gleichsam stumm und scheinbar unveränderlich die Vegetation des Gartens am Leben erhält, der rodet und neu anpflanzt - je nach Wunsch der jeweiligen Besitzer -, bewässert und pflegt, wo diese doch am Ende auch gut ohne ihn auskommt und den Abbruch des Hauses überdauert. Er dient nach jedem Kapitel als emotionale "Bremse", mindert mit seiner beruhigenden Pflege und Hege der Natur die Wucht, die zerstörerische Kraft von Erpenbecks Text. Erpenbecks Texte erzeugen trotz ihrer augenscheinlichen Marginalität eine permanente Sogwirkung, eine starke innere Spannung, der sich zu entziehen kaum möglich ist. Scheint anfänglich vieles noch vage, nur angedeutet und hingetupft, so verdichtet sich der Stoff von Seite zu Seite zunehmend, um beinahe tiefenpsychologische Dramatik zu erreichen. Dabei rollt die Autorin ihre Dramen nicht nacheinander ab, sondern stapelt sie neben- und übereinander, verknüpft, dröselt auf und webt wieder zusammen und lässt so Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beinahe gleichzeitig existieren. Nur der Wechsel der Sprach- und Stilebenen markiert das Vergehen der Zeit. Die Enkelin der Schriftstellerin, die letzte Bewohnerin, ist wohl Jenny Erpenbecks Alter Ego. Denn das Reethaus am See, Ausgangspunkt und Ziel dieser Heim-Suchung, wurde 1936 tatsächlich von einem Berliner Architekten erbaut und ging nach dem Krieg in den Besitz ihrer Großeltern Hedda Zinner und Fritz Erpenbeck über. Fazit: "Heimsuchung" ist ein anmutiges, episches wie poetisch verdichtetes Lesevergnügen der menschlichen Suche und Sehnsucht nach Heimat, indem die Autorin zwölf verknappte Lebensläufe vorstellt, die alle mehr oder weniger miteinander verwoben und untrennbar mit der deutschen Geschichte verbunden sind. Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2008 wäre Jenny Erpenbeck eine wahrhaft würdige Gewinnerin, denn ihre Sätze stehen nicht einfach auf dem Papier, sondern sie sind unterwegs zum Leser, der sich ihrer bedienen kann. So sieht große Literatur aus!
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