Cover des Buches Kritik der mörderischen Vernunft (ISBN: 9783548269542)
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Rezension zu Kritik der mörderischen Vernunft von Jens Johler

Rezension zu "Kritik der mörderischen Vernunft" von Jens Johler

von ChiefC vor 14 Jahren

Rezension

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ChiefCvor 14 Jahren
Einer der besten Thriller, die ich in letzter Zeit gelesen haben! Johler gelingt das Kunststück, aktuelle Ergebnisse der Hirnforschung und ihre Folgen für die Ethik im abstrakten und die Gesellschaft im konkreten Sinn mit einer spannenden Krimi-Handlung zu verknüpfen. Da Immanuel Kant, auf den sich sowohl der Buchtitel als auch der Mörder beziehen, zwar einer der wichtigsten Philosophen ist aber nicht unbedingt leicht zu verstehen, zuckte ich vor der Lektüre erst ein bisschen zurück. Doch Johlers Krimi ist keine Entschuldigung für eine pseudo-intellektuelle Abhandlung. Es gelingt ihm vielmehr, ohne dass die Action darunter leidet, Kants Grundideen zum freien Willen prägnant wiederzugeben. Denn Letzterer soll laut manchen Ergebnissen der Hirnforschung gar nicht existieren und das ist der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Geschichte: Wissenschaftler, die den Menschen den freien Willen absprechen, selbst aber schwer wiegende Entscheidungen treffen, was sie mit dieser Erkenntnis anstellen könnten, etwa Hirnscanner einzusetzen, um Verbrecher und sonstige Ungelittene von vorneherein auszusortieren oder sie mittels Eingriffen und/oder Drogen zu besseren Menschen zu machen. Und daran haben natürlich auch gewisse staatliche Stellen, wie die Geheimdienste, ein Interesse. Was sich anhört wie Science Fiction oder Verschwörungstheorien, ist zum Teil bereits traurige Wirklichkeit. Johler hat gut recherchiert und klärt im Nachwort auch darüber auf, wo die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verlaufen. Kaum hatte ich das Buch beendet, das 2009 erschien, stieß ich in der „Zeit“ (Ausgabe vom 7. Januar 2010) auf den Artikel „Wenn die Nervenzellen tanzen.“ Darin setzt sich die Autorin Hanna Leitgeb mit dem Buch „Der Ego-Tunnel“ des Bewusstseinsforschers und Philosophen Thomas Metzinger auseinander. Es ist wie ein Déjà-Vu: Der Protagonist von Johlers Krimi, Troller, wirft den Hirnforschern wissenschaftliche Arroganz und Allmachtphantasien vor. Es gehe ihnen nicht nur darum, das Bewusstsein zu erforschen, sondern viel mehr, es zu manipulieren. So geißelten sie zwar Religion als unvernünftig und als Quell allen Übels, doch in Wirklichkeit wollten sie sich nur an die Stelle der alten religiösen Autoritäten setzen, um künftig an ihrer Statt den Menschen zu beherrschen. Wie aktuell das Buch ist, zeigt etwa Leitgebs Artikel. Unter anderem schreibt sie: „…das wirklich Neue an der empirischen Kognitionswissenschaft ist, dass wir Bewusstseinszustände nun auch direkt auf der neuronalen Ebene manipulieren beziehungsweise kreieren können und nicht nur indirekt durch Drogen, Medikamente, Alkohol, politische Demagogen und der Mittelchen mehr, die sich Menschen dazu seit Jahrtausenden ausgedacht haben….“ Und weiter: „Es scheint ganz so zu sein, als ob die Neurophilosophen sich derzeit als die Löser aller Rätsel dieser Erde sehen würden. Und vielleicht ist es an der Zeit, einmal die Position der Naturwissenschaften zu entzaubern.“ Natürlich erwähnt auch Leitgeb Kant und die Dialektik von Freiheit und Determinismus. Auch sie kommt, wie Johler, zum Schluss: „Die Naturwissenschaftler brauchen jedenfalls nicht noch die Philosophen als PR-Agenten.“ Und (!!!): „Selbst wenn tatsächlich einmal die neuronalen Korrelate des Bewusstseins in Daten darstellbar und damit auch künstlich herstellbar sind, wird dies immer noch von Menschen gemacht worden sein, die in ihren Ego-Tunnels dieses Ziel hatten und aufgrund ihrer Spiegelneuronen zu einem Gefühl von Verantwortung fähig sind.“ Apropos: Das erste Opfer, das „Kant“ ermordet, ist ein Forscher, der sich mit eben diesen Spiegelzellen beschäftigt hat. „Kant“ bohrt dem Professor den Kopf auf, kann aber keine Spiegelzellen darin finden. Life is stranger than fiction. Johlers Buch, teils Fiktion, teils Realität, beweist diesen Ausspruch auf fast unheimliche und gleichzeitig sehr unterhaltsame Art. Übrigens sind auch seine Szenen aus dem Alltag, wie Trollers Umgang mit seiner Tochter und seiner Freundin erfreulich kitschfrei und, tja, aus dem Leben gegriffen ohne dabei oberflächlich zu sein. Hut ab vor diesem Buch! Warum hat der Mann, Jahrgang 1944, bloß so spät mit dem Bücherschreiben begonnen??? „Kritik“ ist erst sein zweites Werk, das erste, „Gottes Gehirn“, verfasste er mit Olaf-Axel Burow. Bitte mehr Troller und Co.!
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