Rezension zu "Die Ränder der Welt" von Jens Steiner
Als Kristian Arvik als Kleinkind nach Kleinhüningen kommt, das ist ein Ort in der Nähe von Basel, ist seine estnischstämmige Familie zunächst arm und gilt als Außenseiter. Man erfährt, dass viele Esten nach Schweden flohen als Russland seine Hand nach den baltischen Staaten ausstreckte. Es war keine freundschaftliche Hand. Kristians Eltern arrangieren sich, die Mutter kann sich nach zahlreichen Jahren in der Schweiz beruflich etablieren und von ihrer Ehe emanzipieren, der Vater bleibt ein poetisierender Sonderling. Kristian ist mehrsprachig, das hilft ihm später im Leben, momentan tut er sich etwas schwer damit, Freunde zu gewinnen, aber dann trifft er Mikkel. Mit Mikkel verbindet ihn zeitlebens eine sonderbare Art von Freundschaft. Die Beziehung der beiden Jungs ist eine Mischung aus gegenseitiger Anziehung und Abhängigkeit, immer wieder geht es auch um Dominanz.
Der Kommentar und der Leseeindruck:
Eigentlich sind die Figuren des schweizerischen Autors immer so angelegt, dass man sich für sie interessiert, sie fallen aus der Norm. Wie spürt der Autor nur immer wieder diese Sonderlinge auf, für die er eine Vorliebe hat? Das ist toll. Eigentlich. Das Aber folgt jedoch auf dem Fuß.
Der Fokus liegt fast ganz auf Kristian und seiner Entwicklung. Mehr oder weniger zufällig fällt Kristian in seinen Beruf als Steinmetz. Diese Phase des Romans finde ich spannend, Jens Steiner vermag es, einem diesen Beruf nahezubringen. Es ist ein Beruf zwischen Kunst und Handwerk, dem Protagonisten buchstäblich auf den Leib geschnitten und geschrieben. Denn Kristian findet in der Kunst immer Trost, jedoch ist sie ihm auch fragwürdig. Was ist Kunst? Diese Frage wird im Roman immer und immer wieder gestellt.
In der Adoleszens ist die Freundschaft mit Mikkel am intensivsten und am anfälligsten zugleich. Die Jungs stromern herum, verbringen viel Zeit miteinander und lesen sich gegenseitig ihre Lieblingsbücher vor. Hommage an die Lieblingsautoren des Jens Steiner?
Alles ist gut, solange Mikkel und Kristian zu zweit sind. Aber in einer Gruppen funktioniert ihre Freundschaft nicht. Warum? Weder Kristian noch die geneigte Leserin kommen je dahinter, was hinter Mikkels Doppelgesichtigkeit steckt. Und das ist eines der Probleme mit diesem Roman! Das Aber. Wenn ein Autor keine Fragen beantwortet und alles Angedachte in der Luft hängen lässt, macht der Roman keinen Spaß mehr. Aber weiter geht’s. Natürlich verlieben sich die Jungs in dieselbe Frau und Kristian verlässt das Dorf.
Nun beginnt eine Art Odyssee nicht nur durch die Welt, Paris, Dänemark, Argentinien, sondern auch eine Odyssee der Gedanken, eine Odyssee fast ohne Handlung, denn die Handlung löst sich gefühlt in Luft auf. Das orientierungslose Herumstromern in der Welt durch den Protagonisten wird von Jens Steiner hauptsächlich dazu benutzt, um einige mehr oder weniger philosophische Gedanken über die Kunst, die Welt, die Jugend, die Politik, die Philosophie (des Lebens) einzubringen und auf den Leser loszulassen, keineswegs uninteressant. Zum Beispiel macht der Ausflug in die Anfänge des Freistaats Christiania in Kopenhagen durchaus Spaß, aber diese Eindrücke sind unbefestigt, nicht wirklich mit dem Protagonisten verbunden, sie sind hintergrundslos und irgendwie verliert sich dabei die Form des Kristian Arvik. Er macht nicht mehr viel als sich treiben zu lassen. Seine Fallsucht macht ihn auch nicht glaubwürdiger, seine Kontur zerfließt, die geneigte Leserin verliert den Draht zu ihm. Denn was er erlebt, wird nicht wirklich intensiv mit ihm verwoben, sowie es noch mit dem Berufserlernen des Steinmetzens gewesen ist.
Zudem werden ab hier die Lebensstationen im Rückblick an einem Küchentisch sitzend erzählt, nicht mehr gezeigt. Der Autor hängt einige politische Betrachtungen über die argentinische Revolution an seiner Figur auf so wie ab spätestens der Mitte, die Figuren fast nur noch als Sprachrohr von Steiners losen Gedanken dienen.
Allgemein: Von Jens Steiner habe ich „Carambole“ und „Mein Leben als Hoffnungsträger“ gelesen. Ich habe beide Romane gelobt und goutiert. Jens Steiner kann Außenseiter. Ich mag Protagonisten, die aus dem Rahmen fallen. Aber in „Die Ränder der Welt“ mäandert die Erzählung nicht nur zu viel hin und her, sondern ich frage mich auch nach dem Sinn des Ganzen. Der Mensch ist nicht sehr verlässlich in der Welt zu Haus, frei nach Rilke? Danke, aber das wusste ich schon. Nämlich von Rilke.
Fazit: Ein Protagonist, der verholzt. Nachruf: Er lebte bis zur Mitte. Gedanken über die Kunst und eine Botschaft, die ich nicht verstehe.
Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
Verlag: Hoffmann und Campe, 2024