Rezension zu "Lawrence von Arabien" von Jeremy Wilson
Der als Lawrence von Arabien berühmt gewordene T. E. Lawrence ist zweifellos eine der schillerndsten Figuren des 20. Jahrhunderts. Vor allem um sein Privatleben ranken sich unzählige Mythen: Sein angebliches Doppelleben als Spion, seine vermuteten homosexuellen und masochistischen Neigungen und seine uneheliche Herkunft sind nur einige der Gerüchte, die zur Legendenbildung beitrugen. Aber auch Lawrence' öffentliches Leben liest sich wie ein Märchen: Ausgebildet als Archäologe, startete er schon bald eine steile, ungewöhnliche Karriere, bei der er es vom Guerillero über einen Beraterposten bei Churchill bis hin zum Königsmacher im Irak brachte – nur um dann auf Macht und Ruhm gänzlich zu verzichten und als einfacher Soldat bei der britischen Royal Air Force zu dienen.
Seine Abenteuer in der arabischen Wüste sind aus seinem längst zum Weltklassiker gewordenen Buch „Die sieben Säulen der Weisheit“ (1926) bekannt, und die gefeierte Verfilmung seines Lebens durch David Lean im Jahre 1962, mittlerweile ebenfalls ein Klassiker (ausgezeichnet mit 7 Oscars), förderte weiter die Legendenbildung. Doch was verbarg sich hinter der Getriebenheit dieses Mannes? Was war wirklich seine Rolle beim Araberaufstand gegen die Türken? Was steckte hinter dem mysteriösen Verschwinden der ersten Fassung des Manuskripts zu „Die sieben Säulen der Weisheit“? Und welche Rolle spielte Lawrence' früher Tod bei seiner Verwandlung in eine Kultfigur?
Jeremy Wilsons Biographie von Lawrence von Arabien ist eins dieser seltenen Juwelen unter den Sachbüchern, welche jegliche Spekulation meiden und sich lediglich auf Fakten konzentrieren, ohne dass dabei der unterhaltende Aspekt in den Hintergrund gerät. Wohl selten zuvor wurde das Leben einer historischen Persönlichkeit so akkurat und ehrlich dokumentiert, hat ein Autor die ihm zur Verfügung stehenden Quellen derart detailliert und doch interessant aufgearbeitet. Trotz der großen Menge an Informationen und den zahlreichen Anekdoten liest sich Wilsons Werk wie aus einem Guss. Ja, es ist gerade diese Fülle an kleinen Details, welche das Interesse an dieser Person weckt, in den Bann zieht und es dem Leser unmöglich macht, das Buch aus der Hand zu legen. Wilson, der sich bereits seit Anfang der 70er Jahre mit T. E. Lawrence beschäftigt, ist es gelungen, auch die bis dato geheimnisvollen Stränge aus Lawrence' ereignisreichen Leben zu entwirren, wobei er selbst so konfliktreiche Themen wie die wahrscheinliche Vergewaltigung durch türkische Militärs in Deraa im Jahre 1917 nicht scheut. Gebannt hängt man an Wilsons Lippen, dessen Kenntnisreichtum anregend und ansteckend zugleich ist. Diese Akribie, selbst noch den kleinsten Brief aus Lawrence' riesigem Nachlass verwerten zu können, nötigt tiefen Respekt ab.
Wilson geht in seiner Biographie sinnvollerweise chronologisch vor. Der Kindheit folgen die archäologischen Expeditionen, der 1. Weltkrieg, die Nachkriegszeit und schließlich Soldatenleben und Tod. Ein roter Faden, der in Lawrence Leben bei weitem nicht so stringent und gerade war, wie der Autor nie müde wird zu betonen. Geplagt von großen Selbstzweifeln und Depressionen und immer wieder verfolgt von der Presse, war der Heldenstatus stets eine Qual, aus der Lawrence wenn möglich zu entfliehen suchte. Während Sir David Leans Leinwandabenteuer in erster Linie den bedeutendsten Aspekt seiner Biographie, nämlich den Aufstand in der Wüste betont, blickt Wilson zudem hinter die Fassade und den Mythos, und beleuchtet die Seele des arabischen Nationalhelden. Ein exzentrischer Mann von manchmal übertriebener Bescheidenheit, in der viele vor allem verhüllte Eitelkeit erkannten. Lawrence war dem Zeitgeist oft voraus, hat die aktuellen Grenzen im Nahen Osten durch seine Taten entscheidend beeinflusst. Seine unerschütterliche Treue zu den Arabern und der Sinn für Gerechtigkeit, beeindrucken bis zum heutigen Tag. Gegen den Widerstand von Franzosen und einem großen Teil der Engländer, ist es ihm gelungen, für die sich im Spielball der Mächte befindlichen Beduinenstämme eine ehrenhafte Regelung zu erwirken.
Doch nicht nur der Arabienfeldzug, sondern sein ganzes Leben war eine Mischung aus Abenteuer, Literatur und Suche nach Perfektion. Der Vergleich zwischen Film und Wirklichkeit, der sich eigentlich aufdrängt, rückt dank Wilsons fesselnder Sprache bald in den Hintergrund. Sein großes Verdienst ist es hier, auf Schwarzweiß-Malerei gänzlich zu verzichten. Während andere Autoren Lawrence zum selbstlosen Helden stilisieren oder als gewieften Lügner und Betrüger darstellen wollen, geht es Wilson lediglich um den Menschen. Einen Menschen mit Makeln und Schwächen, aber auch bewundernswerten Eigenschaften. Den widersprüchlichen Charakter von Lawrence gänzlich zu entwirren und erfassen, ist dabei dem Biographen nicht geglückt. Dafür hatte wohl auch der Beschriebene zu viel gründliche Vorarbeit geleistet. Und wie soll man rückblickend jemanden verstehen, wenn das nicht mal seinen Zeitgenossen gelungen ist und dieser jemand selbst nicht einmal wusste, wer er eigentlich war?
Wo die Quellen gefehlt haben, Informationen nicht eindeutig sind, da hat sich auch Wilson eines Kommentars enthalten. Die Deutung des Zitierten überlässt er dem Leser, der sich ein Bild von Lawrence dank der gesamten Biographie machen kann und muss. Die „New York Review of Books“ schrieb zu diesem Werk: „Jedes künftige Buch zu T. E. Lawrence kann nur noch ein Kommentar zu dieser brillanten Biographie sein.“ Damit hat man sich in der Tat nicht zu weit aus dem Fenster gelehnt.
„Lawrence von Arabien – Eine Biographie“ ist in Punkto Detailgetreue und Informationsreichtum nicht zu schlagen und brilliert mit einer kurzweiligen, streckenweise auch herrlich humorvollen Sprache. Eine der besten Biographien, die ich bis hierhin gelesen habe („Die sieben Säulen der Weisheit“ werd ich nun garantiert auch lesen) und absolute Empfehlung für alle Geschichtsinteressierten.