Während dieser 2016 erschienene, wuchtige Roman im Original einfach nur "Wil" hieß, bekam er in seiner deutschen Übersetzung gleich einmal einen scheinbar von Selbsthass erfüllten Titel, bei dem man auch noch vermuten könnte, es würde sich um ein moralisierendes Werk der Abrechnung mit dem Menschsein handeln. Tatsächlich aber erzählt Jeroen Olyslaegers eine Geschichte aus der Zeit der deutschen Besetzung Antwerpens im 2. Weltkrieg. Dabei ist er weit davon entfernt, Urteile zu fällen. Vielmehr lässt er die Geschichte für sich sprechen. Und jeder, der sie liest, kann sich selbst fragen, wie er denn in dieser Zeit anstelle des Wilfried Wils gehandelt hätte.
Nach meiner begrenzten Erfahrung besitzen die wenigsten Menschen irgendein Helden-Gen in sich. Und gerade diejenigen, die nicht aufhören können, heldenhaftes Verhalten von anderen im Nachhinein zu fordern, scheitern oft schon, wenn die Latte bei ihnen noch ganz niedrig hängt. In der Regel sind das Menschen, die immer ganz genau wissen, wo es lang geht, sich gerne in den Vordergrund schieben und anderen mit billigen Parolen ein konformes Verhalten aufzwingen wollen. Die Geschichte, die Wils in diesem Buch erzählt, handelt auch von solchen Leuten, wenn auch unter anderen Vorzeichen als heute. Wils selbst gehört nicht zu ihnen. Als belgischer Hilfspolizist der SS muss er dabei helfen, Juden aus ihren Wohnungen zu holen und in Lager zu schicken. Sein Freund Lode, auch im Einsatz bei dieser Polizeitruppe, versteckt einen dieser Juden. Allerdings nicht wirklich aus gelebter Menschlichkeit. Als Wils Lodes Tun mitbekommt, unterstützt er ihn.
Eigentlich wollte Wils Dichter werden. Und einfach diese schreckliche Zeit überleben. Beides ist ihm gelungen. Nun, schon über neunzig, notiert er für seinen fiktiven Urenkel, was er über sich und seine Geschichte mitzuteilen hat. In ihr mischen sich Alterssarkasmus und Einsichten in die Fehler seines Lebens. Auch von Reue ist die Rede, obwohl sie natürlich schon lange das Verfallsdatum ihrer Nützlichkeit überschritten hat. Was jedoch fehlt, ist jedwedes Moralisieren, das einem der deutsche Titel suggerieren könnte.
"Wie erklärt man jemanden, was Wehrlosigkeit ist und wozu der Mensch in der Lage sein kann, wenn derjenige nie am eigenen Leib erfahren hat, was es heißt, den Dreckskerl in sich selbst zu spüren, dass es zugleich Segen und Fluch bedeutet, das nie empfunden zu haben, und dass vom Sessel aus zu wüten bloß blinde Scheinheiligkeit ist?" (149)
Solche Sätze schlagen ein. Und es gibt davon viele in diesem Buch. Auf dem Schutzumschlag steht hinten ein Zitat aus einer Rezension von "De Standaard": "Ein messerscharfes Buch über die Feigheit, die sich Neutralität nennt". Eine solche Einschätzung wird dem Buch eben nicht gerecht, sondern fällt unter diese "blinde Scheinheiligkeit". Einen sinnlosen, weil nichts ändernden Tod zu sterben, nur um bei irgendwelchen später geborenen Schreiberlingen, die nie in einer solchen vertrackten Situation waren, als nicht feige zu gelten, hilft niemandem.
Das wirklich Erstaunliche an diesem zutiefst ehrlichen Roman ist sein spätgeborener Autor, der deshalb selbst nie in Wils Lage gewesen sein kann und sie dennoch so unfassbar präzise und realistisch beschreibt. Übrigens kommt der deutsche Titel im Text tatsächlich vor. Wils sagt nämlich: „Aber der Mensch ist vor allem erbärmlich, er ist nicht konsequent und gibt sich Illusionen hin. Keiner ist sein Leben lang ein Held.“ Gerade weil das so ist, sollte man sich bei der Forderung nach dem Heldentum anderer solange zurückhalten, bevor man sich nicht selbst von seiner eigenen Befähigung zur Selbstlosigkeit überzeugt hat.
Möglicherweise kann sich nicht jeder Leser mit Wils anfreunden, denn der ist kein Herdenmensch. Abhängigkeit oder Hilflosigkeit sind ihm ein Greuel. Sein Handeln wirkt oberflächlich gesehen empathielos, seine Gefühlswelt bleibt, vordergründig betrachtet, verschlossen. Nur ein einziges Mal geht es mit ihm durch. Und dieses eine Mal zeigt, wenn auch nur kurz und überaus heftig, dass in ihm mehr steckt als nur der blanke Überlebenstrieb, den wohl niemand bei sich so einfach ignorieren kann. Tatsächlich jedoch offenbart sein scheinbar widersprüchliches Handeln einen inneren Kampf zwischen dem Wunsch, am Leben zu bleiben, und einer in ihm verwurzelten Menschlichkeit.
Mein Eindruck war, dass Wils und natürlich Jeroen Olyslaegers mehr von den tatsächlichen menschlichen Mechanismen verstanden haben, als mancher flache Urteile fällender Gegenwartsmensch, der schon wieder irgendeine Haltung fordert. Von strammen, immer vorneweg marschierenden Haltungsforderern erzählt übrigens auch dieses Buch. Die Vorzeichen ändern sich, diese Sorte Mensch jedoch bleibt stets präsent. Wils ist gewissermaßen genau ihr einzelgängerisches Gegenteil. Man prüfe sich erst einmal selbst, bevor man über Winfried Wils ein Urteil fällt.
"Ach, …, wir müssen alle irgendwie zurechtkommen. Das Leben geht ja weiter."