Cover des Buches Schwimmen in der Nacht (ISBN: 9783406659393)
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Rezension zu Schwimmen in der Nacht von Jessica Keener

Vom Fallen, Schweben und Schwimmen in ein anderes Leben

von Literatur vor 10 Jahren

Kurzmeinung: Über Mangel-/Verlusterfahrung und die Hoffnung, in ein anderes Leben zu schwimmen - überzeugend durch sprachliche Reife und Stimmungsbilder.

Rezension

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Literaturvor 10 Jahren

"Meine Tante versuchte uns aufzulesen wie auf dem Boden verstreute Äpfel. Aber das war unmöglich. Die Bitterkeit des Lebens hatte alles zerstört, oder würde alles zerstören, wenn ich es zuließ." (S. 141)

"Ausgelöscht schwamm sie mit kräftigen Zügen durch ein anderes Universum und kämpfte sich an die Oberfläche. Das war das genaue Gegenteil von ihrem Leben auf der Erde". (S. 146)


In einem mittleren, vielleicht auch schon höheren Lebensalter erinnert sich die inzwischen erfolgreiche und im Leben "angekommene" Protagonistin Sarah Kunitz, angeregt durch einen flüchtigen, fast schon zufälligen Kontakt mit einem früheren Nachbarsjungen, an ihre Kindheit und Jugend in einer amerikanischen, wohl situierten, "gelegenheitsjüdischen" Familie. Die Kernfamilie, bestehend aus einem strengen, prinzipientreuen, belehrenden Vater, einer depressiven, von Medikamenten abhängigen und in ihrer Rolle nach außen hin funktionierenden, jedoch in ihrer mütterlichen Rolle überforderten Mutter, vier Kindern mit ganz unterschiedlichen Charakteren und Fluchtwegen aus der Realität sowie einer Vielzahl wechselnder Hausmädchen, ist geprägt von Ordnung, Bildung und Erfolg - Liebe und ehrliche Zuneigung finden nur wenig Raum im Familienleben. Die jedoch untergründig lodernden Spannungen spitzen sich zu, bis der ungeklärte Unfalltod der Mutter alle Familienmitglieder in ein großes Nichts zu reißen scheint und das Leben aller tiefgreifend verändert. Es wird deutlich, dass trotz der dysfunktionalen Beziehungsmuster eine gewisse Nähe zwischen den Familienmitgliedern vorhanden war und dass jeder seinen eigenen Weg gehen muss, um trotz des Verlustes überleben, leben und lieben zu können.


Die im Roman "Schwimmen in der Nacht" vermittelten Stimmungen wechseln rasch, wobei die Autorin Jessica Keener diese nüchtern, anschaulich und authentisch einfängt: z.B. die Strenge und Starre des gemeinsamen Familienessens, das Lähmende und Erdrückende ausgehend von der an Schmerzen leidenden, depressiven Mutter, die Beschwingtheit und Ausgelassenheit des Sommerfestes, das Verstörende und Zerstörerische des "Unfalls", um nur wenige Beispiele zu nennen. Sehr passend finde ich die von der Autorin gewählten Beschreibungen, die das Aussehen, die Mimik, die Gestik und das Agieren der Personen, den Duft oder die Stimmung einfangen. Der Schock des Unfalls und die geballte Trauer haben mich stark ergriffen. Ich finde es höchst anspruchsvoll, für ein so differenziertes und erschütterndes Gefühl wie Trauer die "richtigen" Worte zu finden, der Autorin ist dies meines Erachtens nicht nur sehr gut gelungen, sondern in dieser verdichteten unfassbaren Gefühlslage schwingt doch etwas Hoffnungsvolles mit. So beschreibt sie nach der Phase der akuten Trauer auch den Beginn eines Lebens nach der Verlusterfahrung, das für jeden Einzelnen sich anders gestaltet. Die Bedeutung von Musik nimmt im Laufe des Romans zu, wobei Jessica Keener musikalische Begriffe und Songs in ihre bildhafte und doch weiterhin nüchtern-kernige Sprache integriert. Der Roman selbst und seine Bezüge zu Musik und Literatur ergeben ein in sich stimmiges Bild.


Das schlichte, auf das Wesentliche reduzierte Titelbild, das dennoch so vieles gleichzeitig beinhaltet - schwimmen, schweben, fallen, sich treiben lassen, sich fallen lassen -, hat mich stark beeindruckt und wurde passend zum Titel und Roman gewählt.

Jessica Keener gelingt mit der Deskription einer Familie, einer Generation, einer bestimmten Zeit, der Darstellung der Charaktere, der dynamischen Konstellationen zwischen den Charakteren, der Gegenüberstellung von Sein und Schein, den feinen Stimmungswechseln sowie aufgrund des nüchternen Erzählstils, der dennoch so viel Emotionalität beinhaltet, und der sprachlichen Feinheiten ein außergewöhnlicher Roman. Diese Vielfältigkeit, Wandlungsfähigkeit und sprachliche Reife haben mich überzeugt.
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