In „Aron und der König der Kinder“ vom Romanautor Jim Shepard steckt eine bemerkenswerte Buchidee, einen Kriegsroman aus ganz anderer Sicht und Umsetzung darzustellen. Ein interessanter und galanter schriftstellerischer Kniff und Schachzug. Dieser außergewöhnliche Roman mit dem einprägsamen Titel "Aron und der König der Kinder" des amerikanischen Autors Jim Shepard befasst sich mit einer sehr beklemmenden und ernsten Thematik. Dieses Werk taucht in Form von kindlichen und teils naiven Gedanken in Grundsatzfragen des Lebens ein. All diese Fragen entspringen der Suche nach Vertrauen, Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Der Autor hat ein kurzes, knapp 270 Seiten umfassendes, jedoch emotionales und ehrliches Buch erschaffen, welches zu Herzen geht und zum Nachdenken anregt.
Erschienen im C.H. Beck Verlag (http://www.chbeck.de/)
Inhalt:
"Aron, ein kleiner polnisch-jüdischer Junge, ist in seiner nicht gerade kleinen, armen Familie so etwas wie eine Katastrophe auf zwei Beinen. Nichts will ihm so recht glücken und alles macht er kaputt. Doch halb Tom Sawyer, halb Simplicius – er ist ein guter Kerl. Aron hat leider keine Zeit, ein vernünftiger Erwachsener zu werden. Denn seine Familie zieht nach Warschau, die Deutschen überfallen Polen und die Juden werden ins Ghetto gepfercht. Er freundet sich mit einer Gruppe Jugendlicher an, die für sich und ihre Familien ums Überleben kämpfen, arbeiten, schmuggeln und stehlen und sich immer fragen müssen, wieviel Freundschaft und Liebe sie sich noch leisten können. Verrat und Tod lauern jederzeit. Als der König der Kinder, der berühmte Arzt und Pädagoge Janusz Korczak, Aron in sein Waisenhaus aufnimmt, beginnt eine ungewöhnliche Freundschaft, die den Jungen verändert und beide über sich hinauswachsen lässt.
Der preisgekrönte amerikanische Autor Jim Shepard erzählt in diesem spannenden und lakonisch-anrührenden Roman aus dem Warschauer Ghetto eine Geschichte von Menschwerdung und Überleben in einer inhumanen Welt und berichtet von einer Dimension des Menschlichen, die noch das Finsterste überstrahlt."
Schreibstil:
Der Schreibstil dieses Autors weist mehrere Besonderheiten auf, die ich so noch nicht oft gelesen und entdeckt habe. Dieser Stil besitzt Wiedererkennungswert und Personalie. Jim Shepard schreibt sehr kurze Sätze, die fast nichts ausführen oder erläutern. Sie stellen einen momentanen Fakt dar. Es wird nichts emotional oder dramatisch verschönert, detailliert oder ausgeschmückt, sondern einfach und nüchtern eine Aussage getroffen, wie Aron, genannt Sch´maja, seine Welt, seine Umwelt und seine Familie, vor allem die Mutter, wahrnimmt. Ein naives, kindliches Bild. Die Zerstörung durch Bombardements und das Getto als Spielplatz und Abenteuerplanet. Kleine Gaunereien, zwischendurch der Tod des Bruders und die aktuellen Nachrichten zur Mobilmachung und der Hass auf die Juden. Keine Tragödien, nur Falten. Ein grobmaschiges Netzt aus Worten, indem der Leser selbst das Gefühl, die Dramaturgie und Botschaft legen darf. Sehr interessant, zwar gewöhnungsbedürftig, aber von enormer Wucht. Ich brauchte lange, um in diesem Roman anzukommen. Meine Erwartungen waren aufgrund der Lobeshymnen sehr hoch, lange konnte ich die Tiefe und Botschaft aus den wenigen kurzen Zeilen nicht deuten, bis sich mir nach und nach ein engmaschigeres Bild formte und mich das Buch nicht mehr loslassen konnte. Dafür brauchte ich jedoch zwei Anläufe. Ich habe eine Lesepause gemacht und bin erneut gestartet und mit einem wunderbaren und emotionalen Buch beglückt worden. Es lohnt sich, dieses Buch und diese Stilsetzung zuzulassen. Es ist was Neues und Bleibendes. Dieser Stil ist mir bislang ein neuer, jedoch möchte ich gern mehr in dieser Art lesen, auch wenn die Erwärmung länger andauerte als bei mir üblich. Ein sehr eingehender und bewegender Roman in dieser knappen und gedanklich-fortgesetzten Schreibweise. Das Buch erzählt kurz und knapp die Gedanken, Gefühle und die Sicht des anfangs gerade mal 4 jährigen Rabauken Aron. Arons Welt scheint im Krieg auseinander zu brechen. Er muss viel zu schnell erwachsen werden und großes Leid mit ansehen. Seine Eltern streiten, sein Bruder verstirbt, der Hass gegen die Juden wächst. All die kindlichen und teils naiven Gedanken bringt der Autor Jim Shepard hier sehr authentisch und nahe zu Papier. Ein Beispiel, wie Aron den Mauerbau im Getto beschreibt: „Den ganzen Tag hörten wir draußen vor dem Fenster Schubkarren quietschen und Maurerkellen kratzen und Backsteine aneinanderschlagen.“ Aber auch Momente, wie er die Erschießung eines Menschen mit ansieht, wie er den Hunger und die Zerstörung beschreibt, all das in diesen beinahe naiven Worten, dass ist dass, was diesen Roman so bewegend macht. Arons Sicht und Beschreibungen. Mit kurzen Sätzen, aber starker Aussagekraft zeigt der Autor Jim Shepard ein ganz anderes Bild des Krieges. Ein Bild beklemmender Sorge, nagenden Fragen, hoffnungsvollen Aktionismus und die egoistische Blindheit vieler Erwachsener. Jim Shepard verwendet kurze und knackige Sätze und sorgt somit für Tiefgang und ungeschmückte Wahrheit und Realität. Alle Fakten werden offen genannt und unverblümt wiedergegeben. Durch Arons Augen lernen wir seine Ängste und Hoffnungen sehr genau kennen, jedoch konnte mich dieser Stil leider erst sehr spät um im zweiten Anlauf beglücken und wirklich erreichen. Das Schriftbild ist ungewöhnlich locker gehalten, die Kapitel nicht allzu lang und die Wortwahl angenehm und ganz leicht und locker zu lesen. Keine schwere oder anspruchsvolle Kost, aber von ganz besonderer Note im Thema.
Charaktere:
Aron und seine Familie. Aron und seine Bande. Aron, der polnisch-jüdische Junge, ein Halunke, ein Rabauke, ein ganz lieber Kerl, der zu schnell erwachsen werden muss und schlimme Bilder sieht. Bei Aron, dem König der Kinder, stehen seine Reife und seine Naivität teilweise in starkem Kontrast. Stellenweise wirkt er sehr erwachsen und reif, andersherum zeigen seine kindlichen Fragen und Gedanken, wie jung er doch noch ist. Ein starker Gegensatz.
Neben Aron als Erzähler und Hauptcharakter lernen wir natürlich auch seine Eltern, die Geschwister, die Nachbarn, die Soldaten, das Umfeld, die Flucht, die Gettoisierung und Mobilmachung kennen. Wir treffen auf Schulkameraden und Lehrer und auf einen besonderen Mann, Janusz Korczak, der Aron schon sehr früh durch Radio und Erzählungen geprägt hat.
Das Familienleben der Protagonisten, die Zeit im Krieg, die Arbeit im Waisenhaus werden durch die Charaktere authentisch dargelegt und sehr nahe gebracht.
Können beweist der Autor Jim Shepard auch durch die raffinierte Auswahl der wenigen Nebendarsteller, hier besitzt sie ein gutes Händchen für eine gelungene Zusammenstellung der Akteure.
Schauplätze:
Hier verhält sich der Autor sehr dezent, und lenkt daher wenig vom Kern der Handlung ab. Dennoch werden die Zerstörung und das Ausmaß des Kriegs sehr deutlich und greifbar. Das finde ich sehr galant und schlau gelöst. Der Autor Shepard konzentriert sich auf das Geschehen an sich und definiert die Schauplätze auf ein für die Handlung richtiges und wichtiges Maß aus der Sicht von Aron geschildert und wahrgenommen. Dadurch erhält jede Kulisse besondere Tiefe und Bedeutung.
Meinung:
Dieser Roman, bei dem meine Erwartungen im Vorfeld sehr hoch waren, hat mich leider gar nicht so leicht überzeugen können. Die Thematik ist sehr gut gewählt, jedoch hat mich dieses Buch einfach nicht berühren und erreichen können. Stellenweise habe ich mich über diese Distanz zum Buch und zu den Charakteren sehr geärgert. Zwar habe ich Aron und seine Gedanken lieb gewonnen und fand die Idee ganz bemerkenswert, aber leider fehlte hier sehr viel Herzblut und Verbundenheit. Dass hat sich jedoch erstaunlicherweise bei einem zweiten Versuch mit dem Roman schnell gelegt. Das Buch hatte einfach eine zweite Chance verdient, die ich selten vergebe. Ich wollte dieses Buch einfach lieben. Es wurde eine Liebe auf den zweiten Blick!
Die Grundsatzfragen von Aron zum Leben, zum Krieg, zur Menschlichkeit, zur Hilfe und zum Aktionismus und zum Vertrauen fand ich sehr toll ausgeformt, auch die Starrheit der Erwachsenen zeigt sich sehr deutlich. Kinder und Erwachsene nehmen die Welt, gerade im Krieg, ganz anders wahr. Eine Gesellschaftskritik, aber auch ein wichtiger Bezug zur Gegenwart. Aktueller denn je. Die Idee hinter dieser Buchidee, den Krieg einmal ganz anders zu thematisieren, und die Botschaft und Tiefe dahinter finde ich ganz großartig und lobenswert. Dieser Roman hat erst im zweiten versuch seinen Glanz bei mir geäußert. Daher fällt mit die Bewertung besonders schwer. Vieles spricht für das Buch, vieles bedarf aber auch einen zweiten Blick.
Cover / Buch:
Das Cover, so besonders wie speziell. Der Schriftzug springt ins Auge, dort sieht man einen kleinen Jungen, Aron, womöglich. Die Farbgebung ist ideal. Ein Buch, was man gern in die Hand nimmt, wenn man Literatur und Gesellschaftsthemen sowie historische Romane zu schätzen weiß. Der Titel macht neugierig und der Klapptext verspricht ein bewegendes Buch! Das Hardcover ist qualitativ sehr hochwertig, die Seiten sehr fest und stabil. Ein wirklich edles Buch.
Der Autor:
"Jim Shepard, geboren 1956, lebt mit seiner Familie in Williamstown, Massachusetts und lehrt am Williams College. Er hat sechs Romane und vier Erzählsammlungen veröffentlicht und hat u. a. The Story Prize gewonnen. Viele seiner Erzählungen sind in den Anthologien von "The Best American Short Stories" vertreten, 2016 gewinnt er den PEN New England Award."
Fazit:
Diesen Roman wollte ich so gern lieben. Ich habe dem Buch nach anfänglicher Schwierigkeit eine zweite Chance gegeben, was ich äußerst selten tue. Bei diesem Buch war es Liebe auf den zweiten Blick. 3,5 Sterne zu verdienten und respektvollen 4 Sternen aufgerundet!