Cover des Buches Longbourn (ISBN: 9780857522023)
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Rezension zu Longbourn von Jo Baker

Die Welt hinter den Gesindetüren

von Windflug vor 9 Jahren

Kurzmeinung: Faszinierend, berührend, gut recherchiert und einfach schön. Ich werde "Pride and Prejudice" nie wieder auf die selbe Art lesen können ...

Rezension

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Windflugvor 9 Jahren
(Black Swan 2013 - auf Deutsch kürzlich erschienen unter dem Titel „Im Hause Longbourn“)

„The petticoat had been three inches deep in mud when Sarah retrieved it from the girls' bedroom floor and it had a night's soaking in lye already; the soap was not shifting themark, but it was biting into her hands, already cracked and chapped and chilblained, making them sting. If Elizabeth had the washing of her own petticoats, Sarah often thought, she'd most likely be a sight more careful with them.“

Auf Longbourn leben Mr und Mrs Bennet mit ihren fünf Töchtern Jane, Elizabeth, Mary, Kitty und Lydia. Ihre Geschichte ist bekannt. Aber außer ihnen leben dort noch andere Menschen, die in Jane Austens Roman genauso wie in ihrer Weltsicht naturgemäß wenig Beachtung finden: eine Handvoll Bedienstete, die für die Familie all die Dinge tun, die deren Rang ihnen verbietet selbst zu erledigen. Und diese Bediensteten haben ihre ganz eigene Geschichte - Mrs Hill, die Haushälterin, ebenso wie Sarah, das erste Hausmädchen, und auch der neue Diener James Smith. Mit seiner Ankunft im Haus beginnt eine Geschichte, die keineswegs weniger dramatisch ist als diejenige, die sich gleichzeitig „oben“ entfaltet ...

Ich lese normalerweise keine Jane-Austen-Spinoffs. Meist gelingen die nämlich nur mäßig bis gar nicht, vermutlich, weil es einfach schwierig ist für heutige Autoren, sich in die Gepflogenheiten der Zeit hineinzudenken, und weil die Autoren und Autorinnen den schmalen Grat zwischen „zu nah am Original und damit nichts Neues und uninspiriert“ und „zu weit weg vom Original und damit ärgerlich“ nicht treffen. Meist schreckt mich jedenfalls schon der Klappentext ab.

Diesmal dagegen fand ich die Grundidee, sich „Pride and Prejudice“ aus der Sicht der Bediensteten zu nähern, so gut, dass ich das Buch doch gekauft habe.
Und ich darf feststellen: Hier hat jeder Penny sich gelohnt (hab das Buch schließlich in England mit Pfund bezahlt ;-))!

Die Idee ist wirklich großartig umgesetzt. Wir erleben hier das harte Leben der Menschen, die Lizzy Bennet und ihrer Familie ihr standesgemäßes Leben ermöglichen. Ich habe viel darüber gelernt, wie das alles ablief und funktionierte, und ich glaube der Autorin das alles aufs Wort. Dabei wird aber nie gewertet oder aufbegehrt oder angeklagt. So ist es nun mal, und so war es wohl schon immer, und keiner der liebgewonnenen Charaktere aus Jane Austens Roman verliert an Sympathie, eher noch im Gegenteil - ich werde einige Figuren in Zukunft wohl mit ganz anderen Augen ansehen ...

Außerdem aber, und das ist das Wunderbare an dem Roman, wird hier eine ganz eigene, spannende Geschichte erzählt, die sich langsam ausbreitet und auffaltet, bis man sich fragt, wieso einen die Geschichte von Elizabeth und Darcy überhaupt so interessieren konnte, wenn man doch Sarah, James, Mrs und Mr Hill, Ptolemy und Polly kennenlernen kann. ;-) Die Ereignisse aus „Pride and Prejudice“ spielen immer im Hintergrund mit, aber man bekommt eben auch nur das mit, was die Bediensteten betrifft oder was sie miterleben. Da müssen für den Ball auf Netherfield neue Schuhrosen besorgt werden, und Sarah muss deshalb bei heftigem Regen nach Meryton laufen z.B. Oder sie wurde von Elizabeth als Mädchen mitgenommen, als sie die Collins' besucht, und sie sieht Darcy nach seinem Besuch bei der mit Kopfschmerzen daheimgebliebenen Elizabeth mit schnellen Schritten aus dem Haus gehen und die Gartentür hinter sich offen lassen. Das ist alles, was wir darüber erfahren. Und das ist großartig. Denn gleichzeitig beschäftigen Sarah in diesem Moment ganz andere Gedanken über ihr eigenes Leben, über Ereignisse und Menschen, die ihr etwas bedeuten.
Interessant finde ich, dass einiges von dem, was die Hauptcharaktere erleben, ein wenig an die Austen-Motive angelehnt ist. Manches erkennt man wieder, gerade an Figurenkonstellationen. Aber es verläuft dann eben doch anders als bei denen „oben“, und wenn man dann die Hintergrundgeschichten der Charaktere erfährt, ist sowieso alles andere egal. Zuerst haben mich diese Parallelen etwas irritiert, aber dann stellte ich fest, dass sie eben keineswegs unkreative Kopien sind, sondern eine ganz eigene Hommage an die Geschichte von Jane Austen, und das gefällt mir sogar sehr gut.

Dazu kommt noch, dass das Ganze wirklich schön geschrieben ist: Beschreibungen, nach denen man die Küche in Longbourn oder die Landschaft rundherum vor sich sieht, präzise ausgedrückt und gleichzeitig trotzdem poetisch und schön, und Figuren, die leben und die man ins Herz schließt. Jo Baker hält sich dabei übrigens nicht ausschließlich an die untere Etage, wir sehen zeitweilig auch bei Austen eher lächerlich dargestellte Charaktere wie Mrs Bennet, Mary und Mr Collins mit ein wenig anderen Augen. Man kann sich natürlich streiten, ob das sein musste, schließlich springt es etwas aus dem Konzept des Romans, aber andererseits hat das auch wiederum seine Verankerung bei den eigentlichen Hauptfiguren - Mr Collins z.B. wird von Mrs Hill verwöhnt, weil er schließlich eines Tages Longbourn erben und damit für das Wohl und Wehe der Dienerschaft zuständig sein wird ... damit bekommt er schon aus diesem Grund eine ganz andere Bedeutung!

Fazit: ein wirklich lohnenswertes Buch, traurig, schön und spannend, mit Figuren, die ich so schnell nicht vergessen werde, und einem Blick auf die bekannten Figuren aus „Pride and Prejudice“, der glaubwürdig bleibt und trotzdem neue Perspektiven öffnet.

Eine Warnung noch zum Schluss: Wer natürlich Fanservice erwartet, wird hier enttäuscht werden. Darcy hat z.B. hier wenig mehr Screentime als Mrs Hill im Original - sprechen hört man ihn sowieso nur einmal, ansonsten läuft er nur mal durchs Bild, während sich Sarah klein und unsichtbar fühlt. ;-)
Aber wie schon gesagt - wer braucht Darcy, wenn man doch James hat? Ach ja, James ... *Tränchen aus dem Augenwinkel wisch*
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