Im Kafka-Jahr 2024 (Franz Kafka starb vor hundert Jahren) wollte ich wieder mal diesen Autor lesen und habe zu einem Buch gegriffen, das ich noch nicht kannte: „Brief an den Vater“. Dieser Brief, im handschriftlichen Original über 100 Seiten lang, wurde dem Vater nie übergeben. Die Mutter hat ihn zurückgehalten, wohl aus gutem Grund. Der Vater hätte den Sohn erneut nicht verstanden, es wäre womöglich zum endgültigen Bruch zwischen den beiden gekommen. Dabei versucht Franz Kafka, keine Schuld zuzuweisen, vielmehr versucht er, das gestörte Verhältnis zum Vater und seine Angst vor diesem Vater auf zwei unvereinbare Charaktere zurückzuführen, womit er zwar recht hat, doch das Quälende, das dieser Gegensatz im „schwachen“ Kind, Jugendlichen und später Erwachsenen hervorruft, das hätte dieser „starke“ Vater, „der alles aus Eigenem geworden ist“ (zitiert aus dem Nachwort von Max Brod), nicht begreifen können, wie auch wir als Lesende manche Argumentationsstränge nur schwer nachvollziehen können. Zum Werkverständnis trägt dieser Brief allerdings viel bei, etwa ein Zitat, in dem Kafka sich selbst, in Abgrenzung zum Vater unter Einbindung der aus der Familie Löwy stammenden Mutter, beschreibt:
„Vergleich uns beide: ich [...] ein Löwy mit einem gewissen Kafkaschen Fond, der aber eben nicht durch den Kafkaschen Lebens-, Geschäfts-, Eroberungswillen in Bewegung gesetzt wird ... Du dagegen ein wirklicher Kafka an Stärke, Gesundheit, [...] Ausdauer, Geistesgegenwart, Menschenkenntnis, einer gewissen Großzügigkeit, natürlich auch mit allen zu diesen Vorzügen gehörigen Fehlern und Schwächen, in welche Dich Dein Temperament und manchmal Dein Jähzorn hineinhetzen.“ Wenn es dann an anderer Stelle heißt, dass sich Kafkas mütterlicher Erbteil durch „Trotz, Empfindlichkeit, Gerechtigkeitsgefühl, Unruhe“ auszeichnet, wird klar, warum Sohn und Vater nicht miteinander konnten und gegen Ende des Briefes auch, warum dieser Franz Kafka Menschen in Käfer verwandelte, vergeblich ein Schloss aufsuchen oder unschuldig einem Prozess aussetzen ließ.