Rezension zu "Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie" von Jochen Buchsteiner
Das war der Leitspruch der Brexit-Befürworter in Großbritannien. Angeblich ist die EU ein Demokratie-Projekt. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sie sich jedoch als das blanke Gegenteil. Letztlich bestimmt eine Gruppe aus nicht demokratisch gewählten und nicht durch ein Parlament kontrollierbaren Kommissaren die europäische Gesetzgebung. Was eigentlich eine Zumutung für jeden Demokraten sein sollte, ist es insbesondere für manche Briten, denn schließlich gehört die exerzierte Demokratie seit mehreren Jahrhunderten auf der Insel zur DNA der Gesellschaft. Auch der britischen Gesellschaft wurden europäische Gesetze, insbesondere die sogenannten europäischen Freizügigkeitsregeln übergestülpt, die nicht auf ein ungeteiltes Wohlwollen im Vereinigten Königreich stießen. Daraufhin beschloss die Regierung Cameron ein Referendum über einen EU-Austritt in die Wege zu leiten, das unerwartet deutlich ausfiel und seit nunmehr über drei Jahren nicht umgesetzt werden kann.
Nun könnte man beim Titel dieses Buches denken, der Fluchtversuch wäre geglückt. Noch aber ist er es nicht. Denn in den Austrittsverträgen wurde durch die EU eine Falle eingebaut, die man auf der Insel offenbar zunächst nicht völlig begriff. Man kann das im Text des Buches genauer nachlesen. Jeder, der diese ewige Geschichte nun seit drei Jahren verfolgt, müsste sie kennen. In Irland verfügt Großbritannien über eine Binnengrenze. Das wäre kein Problem, würde sie nicht andererseits absichtlich als kaum wahrnehmbar konstruiert sein. Der Brexit würde das jedoch nach dem Willen der EU drastisch ändern, was wiederum fast zwangsläufig Unruhen auf der irischen Insel hervorrufen würde. Dass dieses Problem überhaupt entstehen konnte, muss man wohl den Briten und ihrer zur Schau gestellten Unlust, überhaupt ein Austrittsabkommen auszuhandeln, auf die Rechnung setzen.
Man kann das und vieles andere in diesem schmalen Büchlein nachlesen, in dem auch auf die Besonderheiten der Briten als Nation eingegangen wird. Ich kann mich den vielen überaus positiven Rezensionen nicht völlig anschließen. Denn der Autor argumentiert nicht immer präzise. Zunächst einmal kommt er mit einem anderen Brexit – mit dem von Heinrich dem Achten aus den Fängen der katholischen Kirche. Das war sicher eine einschneidende Abgrenzung zum Kontinent. Aber kann man das vergleichen? Heinrich hatte mit Rom ein Problem wegen seiner Weibergeschichten. Er war ein Despot, der diesen Brexit völlig alleine beschließen konnte. Beim modernen Brexit handelt es sich dagegen um eine Volksabstimmung, die zwar deutlich ausfiel, aber wiederum nicht so gravierend, dass man von einer großen Mehrheit sprechen kann.
Und an dieser Stelle trifft man das nächste Problem in der Argumentation des Autors. Der Wille des Volkes reicht zwar (vermutlich auch jetzt noch) für eine Entscheidung, aber sie dann so darzustellen als wäre sie der Ausfluss typisch britischer Denkweisen, ist wohl angesichts des Ausgangs des Votums ziemlich mutig. Der tatsächliche Konflikt mag zwar in Großbritannien an einer bestimmten Stelle deutlich zutage getreten sein, in Wirklichkeit findet man ihn in fast allen europäischen Ländern. Denn inzwischen ist die EU zur Idee eines europäischen Zentralstaates verkommen. Geht man davon aus, dann ist die undemokratische Grundstruktur des jetzigen Gebildes kein Zufall mehr, sondern eine wohldurchdachte Möglichkeit des Zugriffs auf die Nationalstaaten, ohne dass die Bevölkerung sich dessen tatsächlich immer bewusst ist. Der Autor nennt diese Zentralstaatsidee die "europäische Utopie", was er insbesondere im dritten und letzten Teil seines Textes zu erklären versucht.
So interessant sich der Text im Großen und Ganzen liest, so seltsam phrasenhaft ist er an anderen Stellen. So behauptet der Autor zum Beispiel, es hätte sich nach 1989 ein Konsens herausgebildet, der Folgendes zum Inhalt hat: "die Überlegenheit der liberalen Demokratie und des neoliberalen Wirtschaftens, den Nutzen multikultureller Gesellschaften und den aufklärerischen Zauber politischer Korrektheit". Wieso man Sprech- und Denkverbote mit den Worten Zauber und Aufklärung verbinden soll, hat sich mir nicht erschlossen. Multikulturelle Gesellschaften gibt es in Europa nirgends, außer vielleicht in den Köpfen von Intellektuellen, die die Wirklichkeit nicht begreifen. Was es dagegen wirklich gab, ist der opferreiche Zerfall Jugoslawiens, eines von Tito einstmals erzwungenen multikulturellen Staates. Leider gehört auch dieser Autor zu den Intellektuellen, die nicht verstehen, dass in Europa keineswegs irgendwann nachhaltig neoliberal gewirtschaftet wurde. Ansätze dazu wurden stets sehr schnell durch staatlichen Interventionismus erstickt.
Das Buch erklärt vieles wirklich gut, anderes eben weniger toll. Präzise ist es jedoch selten.