Ein Traum: Neben John Lennon und Yoko Ono in einem kleinen Kino in San Francisco zu sitzen. Dieses bei einem Spaziergang mit den beiden zufällig gefunden zu haben. Jene Frau an der Kasse kennenzulernen, die beim Ticketverkauf die beiden nicht erkannt hat. John sagen zu hören, dass er "Let it be" noch nicht gesehen hat. Ihn und Yoko Ono weinend zu erleben, als Paul McCartney gegen Ende des Films auf dem Dach der Apple-Records-Studios singt ...!
Ein Traum? Mitnichten, denn Jann Wenner hat es im Frühling 1970 erlebt. Joe Hagan schildert jene Begegnung, eine Geschichte für die Ewigkeit, mit eindringlichen Worten, die jeden Fan schon im Prolog des Buches verzücken dürfte. Zweifellos würde der Gründer des Rolling Stone dieses Ereignis, in welchem sich "jeder Moment mit John Lennon wie eine Geschichte anfühlt", ein Leben lang erzählen ...
Im November 1967 ging es los. Inmitten gesellschaftlicher und politischer Veränderungen hatte die Jugend ein Sprachrohr, transportiert durch den musikalischen Zeitgeist, den Jann Wenner mit seiner "ungenierten Anbetung von Idolen", wie es seine Mitarbeiter einst formulierten, einzufangen wusste.
Seine ganz persönliche, ambivalente Art übertrug er auf das Magazin ... auch wenn Hagans Ausführungen dazu, aus heutiger Sicht, etwas schwer nachzuvollziehen sein mögen.
Den Nerv der Jugendbewegung traf Wenner mit dem "Rolling Stone" damals unbestritten, und mit seinem Erfolgsrezept, ausgehend vom (psychedelischen) Underground bis hin zum profitablen Mainstream, eine reine Fanberichterstattung in "echten Journalismus" -wie es Keith Richard formulierte- zu verwandeln, schaffte er es gar mühelos, sich neuen Trends anzupassen. Dies funktioniert besonders gut, wenn sich "Idealismus und Geld" nicht gegenseitig ausschließen.
Joe Hagan hat ein gewaltiges Werk geschaffen, das allein durch die Fülle an Fakten beeindruckt, aber auch an die Grenzen der Aufnahmefähigkeit von Leserinnen und Lesern führt. Man wird von Bandnamen und deren Mitgliedern geradezu erschlagen, doch letztlich ist es überwältigend zu lesen, wenn plötzlich Legenden wie Grateful Dead, Joni Mitchel, Frank Zappa, Ramones oder Quicksilver Messenger Service wie selbstverständlich auftauchen.
Dabei ist es nicht einmal von Belang, sich für diese oder jene Band zu interessieren oder nicht. Man muss sogar nicht unbedingt den Rolling Stone (regelmäßig) gelesen haben. Wenn doch, mögen die Gebirge von Informationen noch interessanter sein. An die damaligen Berichterstattungen der verschiedenen Musikmagazine erinnert sich der Rezensent nur ungern - es interessierte ihn wenig bis gar nicht. Die Musik stand über allem und nicht der geschriebene Text in Magazinen.
Im Nachhinein ändert sich diese Haltung aber nicht unwesentlich, denn "Sticky Fingers" ist so etwas wie die Summe des Ganzen. Das ganze Drumherum, aus heutiger Sicht, scheint ihm deshalb weitaus interessanter zu sein, als es die ganzen Artikelchen im Original einst waren. Kein Wunder, denn Joe Hagan standen über 100 Stunden Gesprächsmaterial und 235 Interviews zur Verfügung, was ihm (und uns) zahllose Blicke hinter so manche Kulisse erlaubte. Hierin besteht der eigentliche Reiz dieses Buches.
Beispielsweise die Erkenntnis, dass es schon damals nicht gelang, und nicht einmal einem Jann Wenner, an Bob Dylan heranzukommen, auch wenn er persönlich mit ihm sprechen durfte, um ihm in (vielen) Interviews wenigstens eine Handvoll sinnvoller Antworten und Kommentare zu entlocken. Es war schon damals nicht möglich.
Erstaunlich, dass Kontakte zu Mick Jagger und dem Rest der Stones schon beinahe selbstverständlich waren, auch wenn sie durch regelmäßige Streitereien, auch urheberrechtlicher Natur, unterbrochen wurden. Beeindruckend und teilweise auch erschreckend, wie sich politische und gesellschaftliche Ereignisse wie die aufkeimende Frauenbewegung, das Konzertdesaster in Altamont, John Lennons Ermordung, die Tate-Morde, Watergate oder der Vietnamkrieg auf die Inhalte der Zeitung auswirkten und z.T. gewinnbringend aufbereitet werden konnten.
Allgegenwärtig ist auch das Thema Drogen, welches in seiner Intensität fast auf die Nerven geht. Ohne Tabletten, Spritzen und Pülverchen scheint es ja nicht gegangen zu sein. Die prominenten Opfer sind bekannt, doch auch die Überlebenden der Szene trieben es auf die Spitze. Wundern darf man sich deshalb schon, wie sie das überlebt haben.
Das alles ist ein aufregendes, aber auch anstrengendes Lesevergnügen. Die Reise einer Musikzeitschrift, die mehr als einmal am finanziellen Abgrund stand, von den revolutionären 60er Jahren bis zur aufsteigenden Kommerzialisierung in den 70ern und darüber hinaus, ist mehr als nur die Geschichte einer Idee. "Sticky Fingers" bedeutete Arbeit. Fünf Jahre sollten vergehen, bis sich Wenners Wunsch nach einer Biografie, geschrieben von Joe Hagan, erfüllen sollte.
Einen kleinen Einblick und eine ungefähre Vorstellung des Pensums, welches der Autor, Journalist beim New York Magazine, zu bewältigen hatte, kann man im Anhang nachlesen. Dem jeweiligen Kapitel zugeordnet gibt Joe Hagan darüber Aufschluss, welche Gespräche, Dokumente und Aufzeichnungen er zusammengetragen und ausgewertet hat.
Seine akribische Recherche und das damit verbundene Fachwissen geht im Detail so weit, dass er uns sogar erzählt, wie es dazu kam, dass "Jan Wenner" seinen Vornamen um ein zweites "n" erweiterte. Auch ein ausführlicher Blick in die Familiengeschichte und im Speziellen auf Kindheit und Jugend Wenners geben Aufschluss darüber, wie es einem einzelnen Menschen mit einer "schizophrenen Persönlichkeit", dessen "ultimative Bestätigung seiner Existenz in der Berühmtheit liegt", gelingen konnte, den Status Quo in der Musikberichterstattung auf den Kopf zu stellen und völlig neu zu ordnen.
Ernüchternd sind dann eher Fakten wie die Mittel, mit denen das erreicht wurde. Viel nackte Haut von Stars und Sternchen gehörte dazu, was immerhin damals neu war. Und natürlich der unbändige Willen Wenners, einerseits mit seinem Journalismus Grenzen zu überschreiten und andererseits mit Selbstverliebtheit und Narzissmus eine Menge Geld zu verdienen.
Man könnte ewig aus diesem gewaltigen Werk weiterzitieren, da Joe Hagan neben aller Fach- und Sachkompetenz eines nicht vergessen hat: Sich allgemeinverständlich auszudrücken. Ein weiterer Verdienst von "Sticky Fingers". Ein musik- sowie kulturgeschichtlicher Meilenstein und ein Denkmal ist das Buch ja sowieso.
Joe Hagan
4 Sterne bei 2 Bewertungen
Autor*in von Sticky Fingers.
Lebenslauf
Joe Hagan hat für das Wall Street Journal, den New York Observer und auch für den Rolling Stone gearbeitet und Features und investigative Stücke über Hillary Clinton, Henry Kissinger, Dan Rather, Goldman Sachs und die Bush-Familie geschrieben. Er lebt in New York.
Quelle: Verlag / vlb
Alle Bücher von Joe Hagan
Sticky Fingers
Erschienen am 27.03.2018
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