Über Jahrhunderte hinweg kannten die europäischen Gesellschaften Berufe, die als "ehrlos" galten. Eine Berufsgruppe, die als besonders ehrlos angesehen wurde, waren Henker und Scharfrichter. Wer diesen Beruf ausübte, der wurde von seinen Mitmenschen gemieden und geächtet. Da Henker ein sozial isoliertes Dasein führten und Ehepartner aus ehrbaren Kreisen für sie und ihre Kinder unerreichbar waren, entstanden vielfach sogenannte Henkersdynastien. Mitglieder von Scharfrichterfamilien heirateten untereinander, und da Henkerssöhnen der Zugang zu ehrbaren Gilden und Zünften verwehrt war, wurde der Henkersberuf oft vom Vater auf den Sohn vererbt. Die Rückkehr in ehrbare Berufe und Kreise war schwierig, wenn nicht unmöglich.
In der Frühen Neuzeit waren grausame Körper- und Todesstrafen selbstverständlicher Teil der Strafjustiz, und deshalb konnten Landesherrn und städtische Kommunen auf Henker nicht verzichten. Trotz des Stigmas, das ihnen anhaftete, erfüllten Scharfrichter eine wichtige gesellschaftliche Funktion: Mit dem öffentlichen Vollzug von Körper- und Todesstrafen lieferten sie den sichtbaren Beweis für die Handlungsfähigkeit der fürstlichen oder städtischen Obrigkeit. Im 16. Jahrhundert wurde die Strafverfolgung zunehmend eine staatliche Angelegenheit. Um private Selbstjustiz zu unterbinden, mussten Fürsten und Städte einen effektiven Justizapparat aufbauen. Unverzichtbarer Teil dieses Apparats war der Henker. Er vollzog Körper- und Todesstrafen an Delinquenten, die mit ihren Straftaten gegen die gängigen Werte und Normen ihrer Zeit verstoßen hatten.
Wie wurde man Henker, und wie lebte man mit diesem Beruf? Das sind die Hauptfragen, denen der amerikanische Historiker Joel Harrington in seinem Buch nachgeht. Harringtons Held - sofern man einen Henker als Helden bezeichnen kann - ist der fränkische Scharfrichter Frantz Schmidt (1553/54-1634), der von 1578 bis 1618 als festangestellter Henker der Freien Reichsstadt Nürnberg wirkte. In diesen 40 Jahren führte Schmidt ein Arbeitsjournal. In zwei Listen erfasste er die Körper- und Todesstrafen, die er im Auftrag des Nürnberger Magistrats vollzog. Im Laufe seiner "Karriere" richtete Schmidt mindestens 394 Personen hin, davon 10 Prozent Frauen (mehrheitlich Kindsmörderinnen). Unter den Hingerichteten waren allein 172 Diebe. Schmidts Journal ist kein Tagebuch im modernen Sinn. Über sich selbst schreibt Schmidt so gut wie nichts. Das Journal ist im Wesentlichen eine Zusammenstellung von Daten und Fallgeschichten: Namen, Herkunft und krimineller Werdegang der Straftäter (bei denen es sich oft um Wiederholungs- und Intensivtäter handelte); Art und Hergang des Verbrechens; Art der Hinrichtung bzw. Körperstrafe (z.B. Auspeitschen, Verstümmeln). Schmidts Journal bietet Aufschluss über die vielfältigen Formen von Kriminalität, mit denen eine Stadt wie Nürnberg Ende des 16., Anfang des 17. Jahrhunderts tagtäglich konfrontiert war: Diebstahl, Raub, Mord, Kindstötung, Banditentum, Münzfälschung.
Harrington beschränkt sich nicht darauf, nur Schmidts Journal zu analysieren. Er zieht eine Vielzahl weiterer Quellen heran und nutzt das Leben des Henkers Schmidt, um dem Leser eine ganze Welt zu erschließen. Das Leben eines Einzelnen, hier eines Scharfrichters, eröffnet eine Fülle von Perspektiven auf die Zeit um 1600. Harrington zeigt Schmidt in der Welt, in der er lebte. Verbrecher und Kriminelle gehörten zu den alltäglichen Bedrohungen, denen die Menschen im 16. Jahrhundert ausgesetzt waren. Öffentliche Hinrichtungen mit ihrem stark ritualisierten Ablauf boten ein "Theater des Schreckens". Sie sollten abschreckend wirken und das Vertrauen der Bürger in die Zuverlässigkeit ihrer Obrigkeit stärken. Die Strafjustiz wurde professioneller; der Bedarf an technisch versierten Henkern wuchs. Der Henkersberuf wurde anspruchsvoller, und mit den Ansprüchen der Dienstherrn stiegen auch die Verdienstmöglichkeiten. So makaber es klingen mag - Schmidt lebte im "Goldenen Zeitalter des Henkers" und war möglicherweise der bestbezahlte Scharfrichter im Heiligen Römischen Reich.
Harrington verfolgt Schmidts Lebensweg von der Zeit als Henkerslehrling bis zum Eintritt in den Ruhestand 1618 und der nachfolgenden Tätigkeit als Heiler. Nur durch eine unglückliche Fügung wurde Schmidts Vater Heinrich Anfang der 1550er Jahre Henker. Fortan war die Familie geächtet. Mangels beruflicher Alternativen ging Frantz Schmidt bei seinem Vater in die Lehre. Ab 1573 war er als selbständiger Henker tätig, erst in Hof und Bamberg, ab 1578 in Nürnberg. Ein Leitmotiv seines Lebens war der Kampf um die Wiedergewinnung der Familienehre. Schmidt kämpfte gegen das Stigma der Ehrlosigkeit an, indem er seinen Beruf mit Professionalität und Gewissenhaftigkeit ausübte. Selbst seinen kriminell gewordenen Schwager richtete er anstandslos hin. Mit einem betont ehrbaren Lebenswandel - Schmidt war frommer Christ und Abstinenzler - wollte er den Respekt seiner Mitbürger gewinnen. Statusverbesserungen blieben nicht aus: 1584 erhielt Schmidt eine Anstellung auf Lebenszeit, 1593 sogar das Bürgerrecht der Stadt Nürnberg. Im Alter gelang ihm schließlich die langersehnte Wiederherstellung der Familienehre durch ein erfolgreiches Gesuch an den Wiener Kaiserhof. Als er 1634 starb, wurde als sein Beruf "Arzt" angegeben.
In der Biographie des Henkers Frantz Schmidt spiegelt sich die Welt um 1600: Die prekären Lebensverhältnisse; die Allgegenwart von Gewalt und Kriminalität; das aus heutiger Sicht archaisch anmutende Bedürfnis der Gesellschaft nach harter Bestrafung von Straftätern; die Ständegesellschaft mit ihren starren Vorstellungen von Ehrbarkeit und Respektabilität. Harringtons wunderbares Buch ist eine darstellerisch und erzählerisch gelungene Verbindung von Sozial-, Mentalitäts- und Rechtsgeschichte. Nicht nur Fachleute, sondern auch Laien können dieses Buch mit großem Gewinn lesen. Selten wurden das Henkersmilieu und das Alltags- und Berufsleben von Henkern so farbig und anschaulich dargestellt wie hier. Es ist eine faszinierende Abwechslung, die Welt der Frühen Neuzeit einmal nicht aus der Perspektive von Fürsten, ehrbaren Bürgern oder Gelehrten zu betrachten, sondern aus der Perspektive eines sozialen Außenseiters, der von seinen Mitmenschen gebraucht, gleichzeitig aber auch weitgehend gemieden wurde.
Ein tolles, unbedingt lesenswertes Buch!
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im März 2014 bei Amazon gepostet)