Zuletzt hatte ich im Studium mit Josef H. Reichholf zu tun. Evolution und die biologischen Bedingungen der Menschen hatten mich dabei besonders interessiert. Jetzt wollte ich mich mal wieder auf einen neuen Stand, aber nicht auf Hochschulniveau bringen. Gerade rechtzeitig kommt Reichholfs „Evolution. Eine kurze Geschichte von Mensch und Natur.“ vom Anaconda Verlag neu herausgegeben, ursprünglich war es im Hanser Verlag erschienen. Prinzipiell soll das Buch auch für ein jüngeres Publikum geeignet sein. Außer den teils sehr schönen aber beliebig erscheinenden Zeichnungen im Was-ist-Was Stil deutet allerdings nichts darauf hin. Einige Begriffe wurden zwar farblich hervorgehoben, als wäre schon jemand mit einem Textmarker zugange gewesen, aber außer, dass es das Buch bunter macht, macht es das noch lange nicht leichter zugängig für jüngere Leser*innen.
Warum hat die Giraffe einen langen Hals?
Das Buch ist in drei große Abschnitte gegliedert. Teil 1 beschäftigt sich mit der Entstehung des Menschen, Teil 2 mit der allgemeinen Evolution und Teil 3 mit kultureller Evolution und Zukunft. Prinzipiell bin ich ja gegenüber Massenpublizierern recht skeptisch. Wer so viel schreibt, setzt sich dem Verdacht aus entweder viel zu recyceln oder aber ein banales Wikipedia-Niveau nicht zu überschreiten. Für teil 1 und 2 kann man hier getrost Entwarnung geben. Es handelt sich um eine leicht verständliche, sehr angenehme Einführung in die Grundgedanken und -erkenntnisse der Evolutionstheorie. Einzig, dass Reichholf nicht immer deutlich kennzeichnet, was state of the art ist, und was seine persönliche Einschätzung ist, trübt diese beiden Abschnitte etwas.
Ansonsten ist die kurze Geschichte von Mensch und Natur nur zu empfehlen. Und obwohl jetzt nicht wirklich viel Neues für mich herauskam, gab es dennoch den ein oder anderen Aha-Moment. Reichholf kann eben einfach gut schreiben und erklären. Und gerade manch Schwierigkeit der Evolutionstheorie, also dem Denken in „um zu“ wird hier ausgezeichnet begegnet. Mit „um zu“ ist gemeint, dass die Evolution keinen Zweck verfolgt und man aber schnell in genau solche Plausibilitätserklärungen verfällt. Warum hat die Giraffe einen langen Hals, um an die hoch hängenden Früchte zu kommen. Das ist natürlich Unsinn, wenn auch eben auf den ersten Blick plausibel. Die Erklärung über Funktionswandel ist dabei ein Meilenstein im Verständnis der Evolution. Auch die „Lücken“ der Evolution kann Reichholf sehr schön erklären.
Evolution vs Entwicklung
Bis hierhin wäre fast nichts Negatives anzumerken, aber dann kommt der dritte Abschnitt. Zwar ist es der Kürzeste dafür ist es eine Aneinanderreihung von Stereotypen, Vorurteilen, Unkenntnis und persönlichen Meinungen des Autors. Wie so viele (Evolutions-)Biologen vor ihm, verfällt er in den Glauben, man könne die biologische Evolution auf menschliche Kulturen bzw. Gesellschaften anwenden. Vermutlich hat jemand einfach vergessen ihm zu sagen, dass es dafür eine eigenständige Wissenschaft gibt, nämlich die Soziologie, die sich mit der „Entwicklung“ von Menschen beschäftigt im Gegensatz zur „Evolution“. Das ist nicht nur ärgerlich, weil vieles spekulativ ist und genau in die Plausibilitätserklärungen verfällt, die er sich im Bereich der Biologie verbitten würde, es ist dazu auch noch häufig schlichtweg falsch (fast alle technischen Erfindungen gehen auf militärische Nutzung zurück. Uff.) Und unangenehm wird es, wenn er sich zum großen Religionskritiker aufschwingt: „Religionskriege sind das Schlimmste, was Menschen erfunden haben.“ Als Deutscher mit Kenntnissen der eigenen Geschichte möchte man vehement widersprechen.
Fakt ist, Reichholf hat das Herz wohl am rechten Fleck und möchte auf die Gemeinsamkeiten der Menschen hinwiesen und das Trennende überwinden. Mit dem letzten Kapitel hat er sich da aber keinen Gefallen getan. Angesichts der ansonsten sehr interessanten und gelungenen ersten zwei Abschnitte, kann man das Buch aber dennoch empfehlen.