Cover des Buches Asphaltengel (ISBN: 9783550080579)
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Rezension zu Asphaltengel von Johanna Holmström

Der wahre Glaube

von Marapaya vor 10 Jahren

Rezension

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Marapayavor 10 Jahren

Aggressiv kommt es daher, das Buch von Johanna Holmström. Ein kräftiges Pink auf dem Cover, in Stücke geteilt von nachlässig hingeworfenen schwarzen Streifen. Asphaltengel sind nicht romantisch, scheint das Buchcover unmissverständlich mitteilen zu wollen. Und Romantik gibt es wirklich wenig im Leben von Leila und Samira. Die Schwestern leben in schwierigen Familienverhältnissen und es ist schlimmer, als dieser nach Behörde klingende Klischeesatz es meinen kann. Nicht einmal die gleiche Erzählzeit wird ihnen gegönnt. Leilas Geschichte beginnt, als Samiras fast endet. Gut zwei Jahre umspannt die Handlung. Samira ist fast zwanzig und zieht von zu Hause aus. Sie sucht für den Absprung sogar die Hilfe eines Frauenhauses, gibt an, Angst zu haben, zwangsverheiratet zu werden. Die kleine Schwester Leila bleibt allein in der elterlichen Wohnung leben und sieht sich dem religiösen Terror ihrer Mutter immer öfter ganz allein ausgesetzt, auch der Vater ist kaum noch daheim. Farid ist in Finnalnd Busfahrer mit Migrationshintergrund, er ist Moslem und mit der Finnin Sarah verheiratet. Sarah ist für ihn zum Islam konvertiert und versucht mit der richtigen Ausübung aller Regeln des Korans und denen der islamischen Gesellschaft ihres Viertels die Familie zusammenzuhalten. Doch dies baut eine ungesunde Spannung für alle auf. Farid als geborener Moslem braucht sich und seiner Religion nichts beweisen, Bier und Fernsehen stehen für ihn in keiner Diskrepanz zu seinem Glauben. Sarah wünscht sich einen rücksichtsvollen Mann, der nicht in Kneipen versumpft und dann mit leeren Taschen nach Hause kommt. Doch je verbissener sie die Regeln des Korans umsetzt, desto energischer entzieht sich Farid ihr. Die Töchter sehen sich mit jedem Jahr immer dogmatischeren Ansichten ihrer Mutter ausgesetzt und suchen sich eigene Wege, um Dampf abzulassen. Während Samira und ihre beste Freundin Jasmina die neue Freiheit einer eigenen Wohnung auskosten, über den Islam, die Rolle der Frau darin, die Liebe und die Familie philosophieren, lebt Leila in ihrer Schule ein Außenseiterdasein. Die ehemals beste Freundin Linda Lindquist feindet sie in den Pausen Öffentlichkeitswirksam an, gern mit körperlichen Nachdruck und bestraft Leila, wenn sie nach der Schule nicht nach ihrer Pfeife tanzt. Die Mädchen rennen, springen und klettern im neuen Sport Parcour durch die Stadt, lungern herum, testen sich aus. Dann stürzt Samira die Treppe herunter und will einfach nicht wieder aufwachen. Keiner kann sagen, ob sie tatsächlich stürzte, gestoßen wurde oder vielleicht absichtlich gefallen ist. Viele Geschichten handeln von muslimischen Mädchen, die sich den Zorn der Eltern, Brüder oder Verwandten zuzogen und den Ausweg in einem einzigen, letzten Sprung sahen. Asphaltengel nennt man sie und Leila mag sich nicht vorstellen, dass ihre große Schwester freiwillig fliegen wollte. Nicht Samira.

Das Figurenensemble ist überschaubar, dennoch ist die Geschichte unheimlich dicht und verwoben. Zeitlich verschiedene Handlungsstränge, Perspektiven, die eng an Leila und Samira fokussieren und wenig Überblick über den Wahrheitsgehalt anderer Figuren vermitteln. Die Charaktere der Schwestern sind überzeugend gestaltet und dienen als spiegelnde Projektionsflächen verschiedener Themen, die unsere europäische Gesellschaft umtreibt. Rechtsradikalität, Migrantentum, Patriarchat, Glaubenskrieg – Johanna Holmström kommt ohne diese Schlüsselwörter aus und dennoch sind sie auf fast jeder Seite präsent. Doch vor allem spricht der Roman von Ausgrenzung. Die Figuren des Buches werden entweder selbst ausgegrenzt oder grenzen andere aus. Sie sind zugleich Opfer und Täter, teilen aus und stecken ein, biegen sich die Welt so hin, wie es ihnen sinnvoll erscheint oder wie es sich halbwegs aushalten lässt. Ein erschütternder literarischer Blick auf unsere Zeit.

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