Für den neunjährigen Waisenjungen Renz entpuppt sich die Stelle auf dem Lindenhof als absoluten Glücksfall. Er liebt die Arbeit, die Tiere und seine Herrschaft. Sein höchstes Glück ist es aber im Herbst auf der Alm Margitli zu treffen, die die Kühe ihrer Eltern hütet. Doch da beschließt der Lindenbauer eines Tages statt des eifrigen kleinen Renz einen jungen, kräftigen Knecht anzustellen, der schwere Arbeit leisten kann und auch nicht mehr zur Schule gehen muss. Renz ist am Boden zerstört als er von heute auf morgen zum Erlenbauern ziehen muss, um fortan auf dem weit entfernten Erlenhof zu arbeiten. Der Erlenbauer hält weder die Schulbildung noch persönliches Befinden des Jungen für relevant. Das Heimweh zerfrisst Renz und treibt ihn immer wieder dazu fortzulaufen. Sein Ruf im Dorf wird immer schlechter. Er verliert Stelle um Stelle und wird immer unglücklicher. Nur Margitli hält noch zu ihm und tut alles, um ihm durch die schwere Zeit zu helfen.
Dieses relativ schmale Kinderbuch von Johanna Spyri trifft den Leser mitten ins Herz. Keine Vorstellung macht man sich heute davon, was Waisenkinder früher in kleinen Dörfern mitgemacht haben müssen. Untergebracht im Armenhaus und von Anfang an nur als kostenlose Arbeitskraft für jede Art Schmutzarbeit weitergereicht von einem zum anderen. Sobald man ihrer nicht mehr bedurfte, wurden sie weitergeschoben. Die Schule war eine lästige Einrichtung, die wertvolle Arbeitszeit kostete und dementsprechend für diese Kinder nur möglich war, wenn man sie gerade nicht anderweitig brauchte. Das Waisenkind als fühlendes, denkendes Wesen mit eigenen Bedürfnissen war nicht denkbar. So führt Johanna Spyri Renz von einem Herrn zum anderen, von denen jeder ihn schlechter und unwürdiger behandelt als der vorige – da man den „schlechten“ Jungen ja nur durch Prügel und Strafen brechen und auf den „richtigen“ Weg zurückführen kann.
Es ist herzergreifend wie Renz vor lauter Heimweh und Vernachlässigung immer unglücklicher und wütender wird. Man selbst ist entsetzt wie schnell sein Verhalten von den Erwachsenen selbstgerecht negativ ausgelegt wird. Er wird quasi zum Raubmörder abgestempelt obwohl seine einzige „Straftat“ darin besteht, dass er von jedem Brotherrn davon läuft, um heimlich zum Lindenhof zurückzukehren und seine Tiere zu besuchen. Im Bewusstsein seines Unrechts wird er scheu und traut sich keinem der Menschen, die er liebt, unter die Augen. Es ist sehr interessant zu sehen wie die Vorurteile und selbstgerechten Attacken der Erwachsenen ihn zu immer böseren Gedanken treiben. Eine Abwärtsspirale, an der der Junge nicht schuld ist.
Bei der Autorin überrascht der christliche Unterton nicht und doch wird in dieser Geschichte ganz deutlich, dass es nicht das Gottvertrauen alleine ist, dass hier helfen kann, sondern vor allem mitfühlende Menschen, die das Kind ernst nehmen, auf es eingehen und ihm ohne Vorurteile mit Sympathie und Interesse begegnen.
Dieses Buch erzählt eine anrührende Geschichte, die auch ein Zeitzeugnis ist. Trotz aller düsteren Szenen bleibt ein positiver Eindruck zurück. Definitiv ein Buch, das man nicht so leicht vergisst.