Was war das europäische Mittelalter, und welche Bedeutung hat es für uns heute? Verbindet uns überhaupt etwas mit dieser fernen und scheinbar so fremden Epoche? Hat sie irgendeinen "Wert", verdient sie unsere Anerkennung oder zumindest eine vorurteilsfreie Betrachtung? War das Mittelalter wirklich eine finstere Zeit der Barbarei, der Unvernunft und des Kulturverfalls, wie es ein weitverbreitetes Klischee behauptet? War es tatsächlich ein viel zu langes und unfruchtbares Interludium zwischen Antike und Neuzeit, ein Kapitel der Geschichte, das die Völker Europas besser vergessen als aufmerksam studieren sollten? Das sind die Fragen, die Johannes Fried in seinem Buch aufwirft.
Staunend und bewundernd nimmt man als Leser zur Kenntnis, daß es Fried gelungen ist, tausend Jahre europäischer Geschichte auf nur 550 Seiten zu behandeln, in einer gelungenen Kombination von Erzählung, Analyse und Reflexion. Ein solches Buch kann nur auf dem Höhepunkt eines Forscherlebens geschrieben werden, denn der souveräne Überblick über die Materie, die ein solches Unternehmen erfordert und voraussetzt, steht dem wissenschaftlichen Nachwuchs erfahrungsgemäß nicht zu Gebote. Hier zieht ein Gelehrter die Bilanz seiner langen Beschäftigung mit dem europäischen Mittelalter, und diese Bilanz lautet: Weder abwertende Diffamierung noch romantische Verklärung werden dem Mittelalter gerecht. Ein realistisches Urteil über diese Epoche sollte sich einer einseitig positiven oder negativen Verzerrung enthalten.
Warum? Weil das Mittelalter kein Fremdkörper in der Geschichte Europas ist, kein Um- oder gar Irrweg, keine Sackgasse, sondern eine dynamische Entwicklungsetappe mit eigenem schöpferischem Potential. Das Mittelalter leistete zweierlei: Erhalt und Weitergabe des kulturellen, wissenschaftlichen und philosophischen Erbes der Antike einerseits; andererseits Herausbildung der modernen europäischen Staatenwelt, die wir vorschnell als Produkt der Neuzeit ansehen, deren Ursprünge aber doch tief ins Mittelalter zurückreichen. Für Fried hat das Mittelalter eine Art Scharnierfunktion: In der Antike verwurzelt, von der es keineswegs durch eine saubere Zäsur getrennt war, bildete es in der Auseinandersetzung mit dem antiken Erbe und neuartigen Herausforderungen zukunftsweisende Triebe und Sprossen aus, deren volle Entfaltung wir als exklusive Leistung der Neuzeit reklamieren, ohne uns hinreichend bewußt zu sein, wieviel die Neuzeit dem Mittelalter zu verdanken hat. Deshalb ist es Fried zufolge irreführend, das Mittelalter als Hiatus anzusehen, als tausendjährige Unterbrechung des europäischen Geschichtsverlaufs, als Aberration, die einen bruchlosen Übergang von der Antike zur Neuzeit tragischerweise verhindert habe.
Wie bereits erwähnt, kombiniert Fried Erzählung und Vermittlung eines Grundgerüsts an historischen Fakten mit Analyse und Reflexion. Leser sollten sich auf diese enge Verschränkung von "untersuchender" und "erzählender" Darstellungsweise (frei nach Droysen) einstellen. Die in knappen Strichen erfolgende Nachzeichnung des Geschichtsverlaufs dient Fried dazu, wichtige Leitmotive der tausendjährigen mittelalterlichen Geschichte herauszuarbeiten und immer wieder aufs Neue zu untersuchen: Umgang mit dem antiken Erbe (Erhalt, Wiederauffindung, Aneignung, Weiterentwicklung); Wandlungen von Herrschaft, Staatlichkeit und politischen Ideen; Ausdifferenzierung der Staatenwelt und Ursprünge der heutigen Nationalstaaten; Aufstieg und Niedergang des Kaisertums; das spannungsträchtige Verhältnis zwischen geistlicher (Kirche und Papsttum) und weltlicher Macht (Kaisertum, Monarchien); Erwerb neuen Wissens in Begegnung mit außereuropäischen Kulturen; die Entwicklung von Bildungsinstitutionen (von Klosterschulen über Universitäten zu humanistischen Zirkeln); technologischer und wirtschaftlicher Fortschritt; Wiedergeburt und Aufblühen der Städte; das Verhältnis zwischen Glaube/Religion hier und Vernunft/Wissenschaft dort.
Diese Motive untersucht Fried vor einem geographischen Hintergrund, der Mittel-, West-, Südwest- und Südeuropa umfasst, während Skandinavien und Byzanz nur gelegentlich gestreift werden und die ostslawische Welt gänzlich ausgeblendet bleibt. Im Mittelpunkt der Darstellung stehen hauptsächlich die Erben der merowingischen und karolingischen Reichsbildungen, also das Heilige Römische Reich und Frankreich, sowie das Papsttum als einzige "europäische", d.h. den ganzen Kontinent umspannende Institution. England, die Iberische Halbinsel und Italien erfahren weniger Aufmerksamkeit, werden aber immer wieder in den Gang der Erzählung einbezogen.
Es würde den Rahmen dieser Rezension sprengen, auf einzelne Kapitel des Buches oder bestimmte Themen einzugehen. Das würde wie Rosinenpickerei wirken und dem Reichtum und der Perspektivenvielfalt des Buches nicht gerecht werden. Der Katalog der behandelten Themen deckt alles ab, was am Mittelalter wichtig und relevant ist, von der Karolingischen Renaissance über die Kreuzzüge und den Investiturstreit bis hin zum Humanismus des 15. Jahrhunderts. Was Fried für das Verständnis des Mittelalters leistet - und dies kann gar nicht hoch genug geschätzt werden! -, wurde oben bereits dargelegt und gewürdigt. Es soll abschließend um die Frage gehen, auf welche Rezeptionsprobleme das Buch beim Lesepublikum stoßen dürfte. Fried hat das Buch für historisch interessierte Laien geschrieben, nicht für Fachleute. Das verdient unbedingt Anerkennung. Aber ist das Buch wirklich für eine nichtakademische Leserschaft geeignet?
Sprachlich bereitet die Lektüre keine Probleme. Problematisch ist der Inhalt. Historiker, die aus der immensen Fülle ihres (Fach-)Wissens schöpfen, vergessen allzu oft, daß zwischen ihnen und den sogenannten historisch interessierten Laien eine breite Kluft besteht, ein steiles Wissensgefälle. Was für den Historiker selbstverständlich ist, weil es den Gegenstand seiner täglichen Arbeit bildet, ist für den Laien allzu oft fremd, exotisch, rätselhaft, schwer verständlich. Sollte Fried das Ziel verfolgt haben, Neulinge für das Mittelalter zu begeistern, so ruft die Frage, ob das Buch diesem Ziel gerecht wird, ob Mittel und Zweck zusammenpassen, Skepsis und Bedenken hervor. Um es auf den Punkt zu bringen: Dies ist im Grunde wieder "nur" ein Buch für Historiker und pensionierte Studienräte mit bildungsbürgerlichem Hintergrund, aber nicht für Gelegenheitsleser, nicht für Anfänger. Wer kein solides Vorwissen mitbringt, wird mit dem Buch seine liebe Not haben und bald ein Gefühl der Überforderung verspüren. Ist schon die Ereignis- und politische Geschichte des Mittelalters schwer zu überschauen, so errichtet Fried mit der starken Akzentuierung von Kirchen-, Religions- und Rechts-, Bildungs-, Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte hohe Hürden, an denen nichtakademische Leser zu scheitern drohen.
Die antiken und mittelalterlichen Autoren und Denker, die Fried so wichtig sind, gehören längst nicht mehr zum gängigen Bildungsgut. Man kann über sie nicht mehr so schreiben, als wüsste jeder Leser sofort, wer gemeint ist und welche Bedeutung diesem oder jenem Werk zukommt. Es werden Autoren, Werke und Denkschulen behandelt, mit denen selbst mancher Mediävist wenig anzufangen weiß, denn in Zeiten unvermeidlicher Spezialisierung geht irgendwann auch dem Fachmann der Überblick verloren. Die notwendigerweise gedrängte, knappe Darstellung trägt ein Übriges dazu bei, daß Leser ohne breites Vorwissen verwirrt und überfordert werden dürften. Manche Kapitel und Passagen konfrontieren den Leser mit einer dichten Faktenfülle, die gerade von Laien schwer durchschaut, verstanden und verarbeitet werden kann. Das gilt besonders für Stellen, an denen im Schnelldurchlauf die politische Geschichte der europäischen Monarchien und die verwandtschaftlichen Beziehungen der Dynastien und Herrscherhäuser behandelt werden. Mehr als einmal stiftet Fried dabei mehr Unklarheit als Klarheit. Der Rotstift des Lektors hätte hier manche Besserung bewirken können - und müssen.
Fazit: Man kann Frieds Buch mit großem Genuss und Gewinn lesen - wenn man hinreichend vorgebildet ist. Fried, motiviert von spürbarer persönlicher Leidenschaft, räumt mit Klischees und Vorurteilen auf und öffnet dem Leser die Augen für die Faszination, die das Mittelalter auszuüben vermag. Es ist gut, daß dieses Buch geschrieben wurde. Es ist schade, daß seiner Rezeption enge Grenzen gesetzt sind. Und zu guter letzt: Nach der Lektüre fragt man sich, wie wohl eine Darstellung der Geschichte Europas im Mittelalter aus der Feder eines britischen, französischen oder italienischen Historikers/Autors aussehen mag. Der Vergleich wäre bestimmt reizvoll!
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Mai 2013 bei Amazon gepostet)