Rezension zu "Fallwind" von Johannes Schweikle
Der 31. Mai 1811 wurde für Albrecht Ludwig Berblinger zur Katastrophe.
Der Beruf des Schneiders von Ulm schien ihn nie richtig zu erfüllen. Seine Gedanken schwebten zeitlebens in anderen Sphären. Berblinger wollte etwas erreichen, das zuvor noch niemand vollbracht hatte. Er wollte erfinden, seine Fantasie in nützliche Bahnen lenken. Beinprothesen und ein Kinderwagen zeugen von seinen vielfältigen Talenten. Doch sein eigentlicher Traum war das Fliegen. Er bastelte im Verborgenen an einem Hängegleiter und experimentierte am Ulmer Michelberg – und Albrecht flog.
Gestützt auf das Prinzip des Gleitens vermochte sein Flugapparat die Aufwinde am Berg zu nutzen, um seinen Piloten in die Lüfte zu tragen und damit den Traum zu realisieren. In Ulm wurde währenddessen getuschelt – nicht nur hinter vorgehaltener Hand. Berblinger vernachlässigte seinen Beruf, seine Familie begann unter seinen “nutzlosen” Erfindungen zu leiden und seine Ideen wurden mehr und mehr belächelt. Die ersten Erfolge am Hügel jedoch verliehen seinem Mut sprichwörtliche Flügel.
Vor fast genau genau 200 Jahren wagte er den Versuch, vor den Augen tausender Schaulustiger die 40 Meter breite Donau zu überfliegen.
Von den Fallwinden, die über fließenden Gewässern herrschen, wusste Berblinger nichts und so kam es, wie es kommen musste. Unter dem Gelächter der Ulmer Bürger stürzte er ab und erholte sich nie wieder von diesem Misserfolg. Er entsagte der Fliegerei, verfiel dem Alkohol und starb 1829 verarmt und von der Gesellschaft geächtet.
Johannes Schweikle gelingt mit einem literarischen Kunstgriff ein kleines Meisterwerk. Er schrieb einen wahrhaft historischen Roman, eine fiktive (aber auf Fakten gestützte) Biographie des Schneiders von Ulm, die auf allen Ebenen das bürgerliche Ulm des beginnenden 19. Jahrhunderts zum Leben erwachen lässt. Wir erleben Berblinger bei seinen Auftragsarbeiten und in den Sachzwängen eines Handwerksmeisters, der aufgrund der Qualität seiner Arbeit allseits anerkannt ist.
Dem gegenüber werden wir Zeugen seiner Träume, seiner Zweifel und seines bedingungslosen Glaubens an sich selbst. Er ist getrieben von seinen wahren Talenten und lebt im ständigen Konflikt zwischen wirtschaftlicher Sicherheit und dem Risiko in das er sich begibt, wenn er beginnt seine Träume zu leben.
Albrecht träumte von einer großen Erfindung. Was er meinte, hatte Max gefragt, und Albrecht hatte geantwortet:
“Es gibt so viele Sachen, die es noch nicht gibt.”
Die Zerrissenheit in die er sich und seine Familie begibt nimmt vorhersehbare Züge an. Berblinger kann die Kurve kaum noch kriegen und wird für seine Ideen verlacht. Er wird Opfer des alten Sprichwortes “Schuster, bleib bei deinen Leisten” und die Bevölkerung von Ulm kann es kaum erwarten, ihn so weit zu treiben, bis er schließlich vor aller Augen versagt – versagen muss. Fallwind.
Johannes Schweikle fügt in seinen fiktiven Roman auf anschauliche und nachvollziehbare Art und Weise die Geschichte der Luftfahrt ein, belegt mit Fakten, was möglich ist und warum man scheitern muss, wenn man diese Fakten nicht beherrscht. Er spannt den Bogen von Ikarus bis in die Fliegerei der Neuzeit – vom Gleitflug über Zeppeline bis zur modernen Luftfahrt. Er setzt dies in den Kontext der bahnbrechenden Erfindungen dieses Zeitalters und ihm gelingt, was unglaublich scheint.
Johannes Schweikle belegt, dass jener Schneider von Ulm tatsächlich geflogen ist. Eine Ehrenrettung der besonderen Art. In einer gelungenen, stets spannenden Mischung aus Fiktion und wissen-schaftlichem Journalismus.
Einzig Berblingers Frau kann er damit nicht mehr helfen.
Mit einem Augenzwinkern schreibt Schweikle von jener Anna, die nach dem Absturz ihres Mannes in die Donau sprichwörtlich selbst “aus allen Wolken gefallen ist”.
Die Rehabilitation eines tragischen Helden macht Mut. Allen Widerständen zum Trotz seinen Weg zu gehen, für seine Träume zu leben und mit einer Gesellschaft zu leben, die genau dieses Scheitern so dringend benötigt, um von eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken.
In jedem Fallwind steckt ein Aufwind – auch wenn Jahrhunderte vergehen, bis er zu tragen beginnt.
Hintergründe und Autoren-Interview auf Lovelybooks:
http://blog.lovelybooks.de/2011/05/30/fallwind-vom-tragischen-helden-zum-uberflieger-der-schneider-von-ulm-impressionen-und-autoreninterview/