Saukaltes Wetter. Bergeweise Schnee. Spiegelglatte Fahrbahnen. Die letzten Wochen bedeuteten Winter pur, weshalb die nun von mir gewählte Lektüre da gut ins Bild gepasst hat. In „Treibeis“, dem zweiten Kriminalroman aus der Feder des Kanadiers John Farrow (Pseudonym für John Trevor Ferguson), kehrt der Leser einmal mehr nach Montreal, der „Stadt aus Eis“, zurück, um Sergeant-Detective Émile Cinq-Mars und seinem jüngeren Kollegen Bill Mathers bei ihrer dreckigen Arbeit über die Schulter zu schauen. Und wie schon im Erstlingswerk „Eishauch“, so stellt auch hier Farrow seine Fähigkeiten eindringlich unter Beweis. Obwohl das martialische Cover anderes vermuten lässt, erwartet den Leser wieder eine äußerst komplexe und vor allem tiefgründige Geschichte, die geschickt mit unseren Erwartungen spielt und deren leise Töne härter treffen, als es das blutige Spektakel des derzeitigen Thriller-“Mainstreams“ je könnte.
Tiefer Winter in Montreal. In einer Eisanglerhütte auf dem Lake of Two Mountains nordwestlich der Stadt beobachtet Émile Cinq-Mars durch ein zugefrorenes Fenster den zugeschneiten See und die weite Bucht am Ufer. Eine Frau hat ihn herzitiert. Sie ist im Besitz von vertraulichen und äußerst brisanten Informationen, welche sie nur in den Händen des besten Bullen der Stadt in Sicherheit glaubt. Nun wartet Cinq-Mars auf die Unbekannte, gemeinsam mit Bill Mathers, der über den Ausflug aufs Eis nur wenig erfreut ist, zumal sich einfach niemand blicken lässt. Den Gedanken an die Heimreise schon im Kopf, durchbricht plötzlich ein Schrei die Stille auf dem See. In einer der nahe liegenden Eisanglerhütten ist eine im Wasser treibende Leiche gefunden worden. Bei dem Toten handelt es sich um Andrew Stettler, einem losen Gangmitglied der Hells Angels und Sicherheitschef eines großen örtlichen Pharmakonzerns. Anscheinend hat man ihm erst in den Hals geschossen und anschließend unter dem Eis ertränkt.
Cinq-Mars ist für ein solches Verbrechen eigentlich nicht zuständig, doch dass der Mann ausgerechnet dort getötet wurde, wo er sich mit seiner Informantin treffen wollte, kann kein Zufall sein und er beginnt hartnäckig eigene Nachforschungen anzustellen. Er findet heraus, dass Stettler an illegalen Menschenversuchen beteiligt war. Ahnungslose und idealistische Mitarbeiter wurden benutzt, um noch nicht zugelassene Medikamente an Aidspatienten zu verteilen und an diesen zu testen. Die Menschen, welche sich eine Verbesserung ihres Krankheitsbildes erhofften, nahmen bereitwillig und begeistert teil. Sie schluckten Pillen und Mixturen, ließen sich Spritzen geben … und starben. Die Führungsetage versucht nun das Fiasko unter den Teppich zu kehren und alle Mitwissenden, darunter Stettler, aus dem Weg zu räumen. Zu ihnen gehört auch die indianisch-stämmige Aktivistin Lucy Gabriel. Während Cinq-Mars und Mathers alles daran setzen, die junge Frau zu retten, machen im Untergrund die Schläger der „Hells Angels“ mobil. Alles läuft auf ein tödliches Wettrennnen hinaus …
Auch wenn ich Kollege Königs Wertung von 91° dann doch ein wenig zu hoch gegriffen finde, muss auch ich konstatieren, dass sich John Farrow mit „Treibeis“, das bereits im Jahre 2001 im Original erschienen is und erst letztes Jahr auf Deutsch veröffentlicht wurde, nochmals deutlich gesteigert hat, ohne dabei in irgendeiner Art und Weise von der eigenen Linie abzuweichen. Farrow behält seinen Stil bei, konzentriert sich in seiner Geschichte wieder auf ein brandheißes und aktuelles Thema und meidet weiterhin die Fallen der üblichen Serienheld-Krimis. Auch wenn Émile Cinq-Mars und Bill Mathers die treibende Kraft hinter den polizeilichen Ermittlungen sind, stellen sie doch nur einen Teil des großen Mosaiks dar, aus denen dieser Kriminalroman zusammengesetzt ist. Wo manche Autoren mit detaillierten Einblicken ins Seelenleben der Protagonisten gleich ganze Seiten füllen, wird einem dies hier nur ausschnittsweise zuteil. Besonders zu Beginn ist zudem hohe Aufmerksamkeit vom Leser gefordert, da Farrow durch die Zeiten springt und man sich so, nachdem das Buch mit der Ankunft zweier New Yorker Cops begonnen hat, rückblickend dem Status Quo nähert. Ein geschickter Schachzug, der nicht nur die Dramaturgie verdichtet, sondern auch ganz nach dem alten „Columbo“-Rezept die „Wie“-Frage über die „Wer“-Frage stellt.
Und wie Farrow im weiteren Verlauf die individuellen Beweggründe der Protagonisten schildert und diesen Schmelztiegel aus Profitgier, Lug und Betrug zu einem stimmigen Ganzen formt, ist äußerst beeindruckend. Wenngleich auch hier der Bodycount sich durchaus sehen lassen kann, bezieht der Plot seine Spannung besonders aus der Realitätsnähe. Die Tatsache, dass sich der Autor eigentlich nicht weit von der Wirklichkeit entfernt, das organisierte Verbrechen keine Ausnahmeerscheinung darstellt, sondern Teil der Gesellschaft ist, lässt schwer schlucken. Alte moralische Grenzen sind längst verschwommen, die Ethik wurden dem Gewinnstreben geopfert. Gauner in Rockerkluft machen gemeinsame Sache mit gut situierten Geschäftsführern, bestimmen gar deren Geschäftspraxis. Farrow hebt mit sicherer Hand diese Verflechtungen hervor, macht den eiskalten Mord zum bitteren Tagesgeschäft. Wofür andere Autoren Tonnen von Blut und eine Handvoll schleimiges Gedärm brauchen, das erledigt hier ein kurzer Dialog – man ist angeekelt, angewidert und doch, aufgrund von morbider Neugier, fasziniert.
Dennoch taucht Farrow nicht gänzlich in die Dunkelheit ein. Cinq-Mars und Mathers bleiben erstaunlich menschlich, versuchen ihren Teil beizutragen, um das Böse einzudämmen, das, wie sie selbst gut wissen, zwar nicht besiegt werden kann, aber immer wieder auch Fehler begeht. Und es ist ein wahres Vergnügen Cinq-Mars dabei zu beobachten, wie er diese Ausrutscher entdeckt (die mir teilweise selbst entgangen sind) und geschickt nutzt, um seine Gegenspieler in die Ecke zu treiben. Überhaupt sind die Dialoge ein Genuss, fasziniert die rauhe, grobe Art des alten Wolfs Cinq-Mars, der gegen alle Widerstände vorausgeht und für den erfolgreichen Abschluss auch mal die Gesetze bis an ihre Grenzen dehnt. „Treibeis“ lebt von seinen großartigen Figuren und dieser intelligent konzipierten Komplexität, welche im Vergleich zum Vorgänger nun viel zielgerichteter geraten ist. Das sorgt wiederum für besseren Lesefluss, wenngleich man auch diesmal die ein oder andere Schwierigkeit mit den vielen Handlungsebenen und Schauplätzen hat. Das Buch verweigert sich dem „page-turning“, sorgt gleichzeitig aber damit auch dafür, dass das Gelesene umso eindringlicher in Erinnerung bleibt.
Insgesamt ist „Treibeis“ ein eiskalter, äußerst düsterer Polizeiroman-Noir-Mischling, der vor allem gegen Ende eine intensive Dramatik entfaltet, die dem Thema Serienkiller ein paar neue, beängstigende Facetten abringt und den Leser wortwörtlich aufs Glatteis führt. Ein wirklich gut geschriebener Krimi, der gern eine Fortsetzung erfahren dürfte. Leider lässt die nun seit knapp zehn Jahren auf sich warten.