Drei Männer auf einer Expedition in der Antarktis – ein Sturm, ein Unglück – eine drückende Schuldfrage: Stoff für einen Hollywoodfilm! Doch wer hier einen Justizthriller erwartet, der liegt falsch, denn der Frage, wer wofür zur Verantwortung gezogen werden muss (oder kann), wird in diesem Roman nur eine untergeordnete Bedeutung zugemessen.
Das Buch ist in drei große Kapitel aufgeteilt, die schon der Titel wiedergibt: 1. Stürzen / 2. Liegen _ 3. Stehen |, plus ein Epilog, der mit / _ | überschrieben ist.
Im ersten Teil sind wir mitten in einem Sturm in der Antarktis; „Doc“ Robert, Thomas und Luke sind durch unvorsichtige Umstände getrennt und geben ihre – durch den Nebel sehr eingeschränkte – Sicht in wechselnden Perspektiven wieder.
Diese knapp 100 Seiten gehören zum Besten, was ich je gelesen habe! Der Stil ist verknappt, die Sätze sind – der Situation angepasst – eher kurz gehalten, doch jedes Wort sitzt genau an der richtigen Stelle. „Wichtig war, ruhig zu bleiben und eine Bestandsaufnahme der Situation zu machen. Denk an die Ausbildung: Unterschlupf finden oder bauen, sich nicht vom Fleck rühren, mit den Teamkollegen Kontakt aufnehmen, in Bewegung bleiben, Ruhe bewahren. Es gab gewisse Widersprüche in der Ausbildung.“ (S. 10) Beinahe atemlos bange ich mit, wie sich die drei wohl aus ihrer unglücklichen Lage retten können. Gleichzeitig strahlen die Beschreibungen der Landschaft eine überwältigende Ruhe aus. Der Slogan „mittendrin, statt nur dabei“ würde hier passen. Ich leide mit Robert mit, dem plötzlich die Wörter durcheinandergeraten. „Er ging zum Funkgerät. Er trat auf seinen schwachen rechten Fuß und stürzte hart zu Boden. Er bodete das gesichte Taub aus seinem Schmerz. Nein. Schmerzte schrecklich und rieb. Den Rum. Den Reib.“ (S. 84) Ein Hoch auf die Übersetzerin, die (nicht nur hier) sehr gute Arbeit geleistet hat!
Im zweiten Teil steht Anna, Roberts Frau, im Fokus der Erzählung. „Es tut mir leid, dass ich Sie geweckt habe. Sie müssen bitte kommen“ - diese zwei Sätze verändern ihr ganzes Leben. Von jetzt auf sofort ist sie Angehörige und später Betreuende eines Schlaganfall-Patienten.
Der dritte Teil spielt größtenteils während der Sitzungen einer neuen Hilfegruppe für Aphasie-Betroffene. Ob Robert hier seine Sprachfähigkeiten verbessern kann? Oder finden er und seine Leidensgenossen eine andere Art, sich ausdrücken zu können?
Die Thematik verlagert sich deutlich. Nun geht es nicht mehr um Naturgewalten und Überlebenskampf, sondern um nüchterne Krankenhäuser, Pflege- und Entwicklungspläne, was sich natürlich nicht mehr so spannend und abenteuerlich liest – doch Jon McGregor hält das sprachliche Niveau weiterhin sehr hoch. Er versteht es, mir mit einfachen literarischen Kniffen etwas beizubringen: „Sie musste ihm helfen. Sie musste zumindest für den Augenblick ignorieren, dass er ihr etwas mitzuteilen versuchte. Sie musste sich darauf konzentrieren, die anstehende Aufgabe zu erledigen, und die war, ihn warm zu halten. Sie musste dafür sorgen, dass er etwas aß, bevor sein Blutdruckspiegel zu stark absackte. Sie musste…“ (S. 177) Nachdem ich zwei Seiten lang gelesen habe, was Anna alles muss, bin ich innerlich schon platt, wie soll es dann Anna selbst erst ergehen?
Nein, dieses Werk braucht keine Schuldzuweisungen, keine Auflösung, keine Schwarz-Weiß-Malerei. Es zeigt auf, wie schnell sich doch eine Lebenssituation ändern kann. Ein Expeditionsführer wird zu einem Pflegefall. Und doch gibt es Fortschritte, gibt es Hoffnung. Das ist vielleicht unspektakulär, aber lebensnah. Alltag für so viele Schlaganfallpatienten und ihre Angehörigen. Eine literarische Stimme für sie, die wenig verstanden und wenig gehört werden.
Dieses Buch birgt noch mehr Widersprüchlichkeiten als nur in der Ausbildung: dem mangelnden Sprachvermögen der Hauptperson setzt der Autor eine umso dichtere Sprachgewalt entgegen. Sein Text ist nicht besonders emotional, doch wenige Romane haben mich so bewegt wie dieser.
Absolute Leseempfehlung!