Rezension zu "Mein Jahr mit Achill" von Jonas Grethlein
Jonas Grethlein schildert sich als einen, der etwas kann und etwas will: Mit 27 Jahren sitzt er am kalifornischen Strand, in der Tasche eine brillante Promotion, die es nur noch zu verteidigen gilt.
Den Hang zur Exzellenz teilt er mit dem Subjekt seiner Doktorarbeit: Achill, dem „Besten der Achaier“ und Helden der Ilias, der seit seinem Bad im Totenfluss Styx als quasi unbesiegbar gilt. Gemeinsam ist beiden Männern damit auch eine große Fallhöhe, die aus ihrem Konflikt – der plötzlichen Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit – ein tragisches Ereignis macht.
In Mein Jahr mit Achill schreibt Jonas Grethlein über die Diagnose Krebs und wie sich sein Leben, vor allem aber sein Nachdenken darüber verändert. Die autobiografische Erzählung ist dabei einerseits persönliche Krankheitsgeschichte, andererseits eine Interpretation der Ilias, die dieses uralte Stück Weltliteratur auch Nicht-Philologen zugänglich macht. Ein ungewöhnlicher, etablierten Genregrenzen trotzender Ansatz, der viel Raum für Reflexionen über Krankheit, Körper und den Schrecken der Sterblichkeit eröffnet.
Grethlein glänzt dabei als Erzähler von herausragender Rationalität: Er gibt sich nicht mit einfachen Erklärungen zufrieden, hadert nicht mit dem Schicksal oder den Göttern und nutzt das Ausgeliefertsein an die Krankheit, um über Agentialität, das Handeln- und Bewirkenkönnen im eigenen Leben nachzudenken: „Mit den homerischen Hexametern im Ohr fragte ich mich weniger, warum ich Krebs hatte, als vielmehr, wie ich so lange mein Geschick selbst in der Hand zu haben gemeint hatte (115).“ Besonders beeindruckt dabei Grethleins Blick für gängige Narrative über Krankheit wie den Kampf gegen den Feind Krebs, die klar benannt und abgelehnt werden. Hier kommt der Wissenschaftler voll zur Geltung und an Quellen mangelt es keinesfalls: Sei es nun Susan Sontag, Simone Weil, die Phänomenologie oder Martin Heidegger, Grethlein findet immer einen klugen Gedanken oder theoretischen Querverweis, den er gewinnbringend in seine Überlegungen einflechten kann.
Komplettiert werden diese Reflexionen durch die große Offenheit, mit der Grethlein von seinen Ängsten berichtet, vom plötzlichen Misstrauen gegen den eigenen Körper, von Schmerzen und Gefühlen der Ohnmacht. Der Erzähler beschreibt dabei auch die notwendigen Behandlungen der Blase und sinniert über den operativen Eingriff als Penetration. Das Thema Männlichkeit spart Grethlein jedoch selbst dann aus, als der Verlust der Potenz droht, was eine auffällige Lücke in den sonst kein Detail aussparenden Aufzeichnungen darstellt.
Die leidvollen Erfahrungen werden dabei als ein entfremdendes Element beschrieben, das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit als etwas, das trennt statt verbindet. Mit E., die bei einem Autounfall den Vater und um ein Haar auch das eigene Leben verloren hätte, teilt der Protagonist zwar eine intensive, aber lediglich sexuelle Beziehung – wodurch der Bericht gerade an dieser Stelle enttäuschend einstimmig bleibt. Auch führt die Konfrontation mit dem Tod den Protagonisten nicht dazu, seinen Drang nach Geltung und Distinktion zu hinterfragen, wie die anhaltende Faszination für den Adel veranschaulicht. Die Bestrebungen, Auszeichnung durch Geburt durch eine Auszeichnung durch Leistung zu ersetzen (Grethleins Vater etwa wird unkritisch mit dem Ausspruch „in unserer Familie sei das Publikationsverzeichnis der Siegelring“ (161) zitiert) haftet ein meritokratischer Dünkel an, der den Blick auf das universell Menschliche und damit auf den humanistischen Charakter von Grethleins Aufzeichnungen verstellt.
Auch die feine Selbstironie vom Anfang der autobiografischen Erzählung kehrt im Verlauf derselben nicht zurück. Und so bleibt die Einsicht in die eigene Vergänglichkeit in Mein Jahr mit Achill nur ein Augenblick des Aufdeckens, der Heideggerschen aletheia. Am Ende ist der Protagonist wieder am Strand, der narrative Zirkel schließt sich in der Rückkehr in eine fadenscheinig gewordene Normalität. Damit krönt Grethlein seine Aufzeichnungen mit einem Ende im Stil der Ilias, der Abschluss „entfaltet seine volle Wirkung erst dadurch, dass in ihm zugleich die Unabgeschlossenheit des Lebens sichtbar wird, auf die er antwortet (203).“