Cover des Buches Die Korrekturen (ISBN: 9783499255496)
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Rezension zu Die Korrekturen von Jonathan Franzen

Systeme, die sich regulieren

von Ginevra vor 8 Jahren

Rezension

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Ginevravor 8 Jahren
Enid Lambert fühlt sich als Zentrum einer typischen US-amerikanischen Familie: Gatte Alfred ist ein ehemals erfolgreicher, berenteter Erfinder, die drei Kinder Gary, Denis und Chip haben ordentliche Berufe gelernt und leben in alle Winde zerstreut. Zu Weihnachten hat Enid nur noch einen Wunsch: bevor sie ihr altes Familienwohnhaus aufgeben, sollen alle zusammen Weihnachten feiern, ganz so harmonisch und idyllisch "wie früher".

Doch unter der gutbürgerlichen Oberfläche brodelt es gewaltig: Alfred leidet unter einer fortgeschrittenen Form der Demenz, bringt alles durcheinander und zerstört beinahe systematisch alles, was sie gemeinsam aufgebaut haben. Chip hat seine Stelle als Dozent verloren, verwahrlost immer mehr und lässt sich auf dubiose Geschäfte in Litauen ein. Garys perfekte Ehe steckt in einer schweren Krise. Denise, die erfogreiche Köchin, droht aufgrund ihrer verzweifelten Suche nach Nähe alles zu verlieren.

Trotz großer Differenzen gibt es dennoch einen Zusammenhalt innerhalb der Familie Lambert, doch Enids Traum einer allerletzten, perfekten Weihnachtsfeier wird immer mehr zum düsteren Alptraum...

Jonathan Franzen, geb 1959 in der Nähe von Chicago, setzt sich in seinen umfassenden Romanen häufig mit dysfunktionalen modernen westlichen Familien auseinander. Außerdem spielen gesellschaftliche und politische Ereignisse eine wichtige Rolle, so dass jede Figur stets von mehreren Seiten gezeigt wird, eingebettet in die jeweiligen Bezugssysteme.

Mich hat dieser Roman zunächst ziemlich gefordert, weil die Hauptfiguren Enid, Alfred und Chip alles andere als sympathisch erscheinen, und ihre Handlungen oft ziemlich absurd wirken - zunächst. Doch im Verlauf der ca. 800 Seiten bildet sich ein facettenreiches Bild dieser Familie heraus, viele Verhaltensweisen werden klarer und nachvollziehbarer, so dass auch das Ende ziemlich logisch erscheint (ohne spoilern zu wollen).

Besonders beeindruckend fand ich die intensiven Beschreibungen von Alfreds Demenz, z.B. während einer Kreuzfahrt. Alfred verliert in dieser ungewohnten Umgebung komplett die Orientierung, und die kreuzbrave Enid wird beinahe ungewollt drogensüchtig. Einige Szenen sind neben der bitteren Thematik auch ziemlich komisch.

Weniger gefielen mit einige Längen, z.B. als es um Chips Geschäftsreise nach Litauen geht, oder um Denises Gastronomieerfahrungen. Außerdem bedient sich Franzen manchmal einer ziemlich drastischen Fäkalsprache, die mich sehr strapazierte - auch wenn sie letztendlich nötig erscheint, um bestimmte Auflösungstendenzen zu verdeutlichen.

Fazit: ein beeindruckender Roman über viele differenziert dargestellte Figuren, in einer Zeit voller Umbrüche. Ein Familiensystem, das sich immer wieder selbst korrigieren muss - wie auch jedes Individuum seine persönliche Suche nach dem Glück immer wieder neu erfinden muss.

Ein großartiger, wenn auch streckenweise anstrengender Roman - 4 on 5 Sternen!
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