Cover des Buches Schweres Beben (ISBN: 9783870249496)
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Rezension zu Schweres Beben von Jonathan Franzen

Rezension zu "Schweres Beben" von Jonathan Franzen

von HeikeG vor 17 Jahren

Rezension

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HeikeGvor 17 Jahren
"Schweres Beben" - der Titel lässt schon einiges erahnen. Man kann ihn in unterschiedlicher Weise interpretieren. Zum einen geht es in diesem Roman ganz konkret um Erdbeben: immer wieder finden Erdbeben statt und treiben die Handlung voran. Aber sie sind auch eine Metapher für zwischenmenschliche Beziehungen. Im Großen und Ganzen geht es in diesem Roman um Konsumgier, Wirtschaftskriminalität, Umweltschutz, Abtreibung, Religion, Liebe und persönliche Verantwortung. Aber es dauert ein paar Seiten, bis die Handlung dynamisch und spannend wird, denn Jonathan Franzen geht nicht nur auf viele Themen ein, sondern auch auf Nebensächlichkeiten und Biografien von Randfiguren. Man liest auf fast 700 Seiten nicht nur einen Roman, vielmehr hat man den Eindruck, zwischen mehreren Romanen zu zappen, einem Kriminal-, einem Familien-, einem Liebes-, einem Entwicklungs- und einem Campusroman; sie sind miteinander verknüpft: Der Krimi beginnt damit, dass die Seismologin Renée Seitchek eine schockierende Entdeckung macht: die Erdbeben sind größtenteils auf kriminelle Machenschaften eines Chemieunternehmens zurückzuführen. Der Familienroman wiederum zeigt eine Familie, die auseinander driftet. Mutter und Tochter sind gesellschaftlich angepasste Egoistinnen, die ihre materiellen Interessen wahrzunehmen wissen. Vater und Sohn zeichnen sich durch Nonkonformismus und Gleichgültigkeit gegenüber finanziellen Belangen aus. Gezeichnet ist ein Konflikt zwischen Sohn und Mutter. Diese erbt einen Teil der Aktien des kriminellen Chemieunternehmens, und so wird die Brücke zwischen Familienroman und Kriminalroman geschlagen. Der Sohn Louis liebt Renée, was zum Liebesroman hinüberleitet. Der Entwicklungsroman führt vor, wie aus dem unentschlossenen, teilweise aggressiven Einzelgänger Louis, ein milder und versöhnlicher Mensch wird, der sich in die Gesellschaft zu integrieren beginnt. Bleibt als letztes der Campusroman, welcher in einem geologischen Institut der Harvard-Universität, besonders in dem dortigen Computerraum, spielt, wo Nachwuchswissenschaftler nicht gerade einträchtig ihren Forschungen nachgehen. Trotzdem hat der Roman ein durchgehendes Thema, die Umweltzerstörung. Auch im unsensationellen Alltag wird der Blick immer wieder darauf gelenkt, wie sehr die Abfälle der Industriegesellschaft die Welt verschandeln. Aufzählungen von weggeworfenen hässlichen Gegenständen durchziehen den Text. Keineswegs erschwerend war für mich, dass Franzen oftmals unangekündigt in der Zeit hin- und her springt (dies ist eine "Eigenheit", die ich schon in den "Korrekturen" faszinierend fand). Es könnte natürlich für den ein oder anderen Leser eine echte Herausforderung werden, an jeder Stelle den Überblick über die Zeit zu behalten, in der die momentane Handlung spielt. Franzen punktet wieder deutlich im sprachlichen Bereich. Lange Schachtelsätze, die sich teilweise über ganze Absätze ziehen, sind keine Seltenheit, doch sind sie stets so formuliert, dass man beim Lesen nie den Überblick verliert. "Schweres Beben" ist wunderbar zu lesen und macht auch auf sprachlicher Ebene einfach Spaß. Fazit: Ein Gesellschaftsbild zu zeichnen anhand einer Familiensaga - das ist Franzens hohe Kunst. Thematisch hat Franzen sein Buch ziemlich vollgepackt, oftmals schweift er in seiner Erzählung ab und verlangt von seinen Lesern dadurch einen langen Atem. Inhaltlich ist "Schweres Beben" durchaus interessant und auch hochaktuell, ein spannender und tiefsinniger Roman, der den Leser in die Abgründe der amerikanischen Gesellschaft entführt. Das Buch hat einen unwiderstehlichen Humor zwischen ironisch und giftig. Franzen erzählt in grandios unerbittlichen Dialogen und verwebt virtuos Charaktere, private Beziehungen und soziales und politisch-wirtschaftliches Geschehen ineinander. "Schweres Beben" ist moralisch und zynisch, heftig und sanft, komisch und traurig zugleich, ein bunter, lauter, leidenschaftlicher, wütender, manchmal aber auch romantischer Roman. Wer "Die Korrekturen" gern gelesen hat, dürfte "Schweres Beben" nicht reizlos finden. Es enthält bereits einige Charaktere und Konstellationen, die in "Korrekturen" aufgegriffen und variiert werden. und wer einen Liebes-, Familien-, Gesellschafts- und Katastrophenroman in einem vollgepackten Paket ertragen kann, der ist bei "Schweres Beben" an der richtigen Adresse. Der Hörbuchliebhaber kann sich entspannt zurücklehnen, denn man hat eine sorgsam gekürzte Lesung im CD-Player, die alle Handlungsstränge enthält und nur die vereinzelt bemängelten Längen präzise ausräumt. Die Handlung wird so geschickt verdichtet, dass man tatsächlich nichts vermisst. Den unverwechselbaren "Franzen-Ton" vermag Gerd Wameling präzise zu treffen und vermittelt dem Hörer somit die gesamte im Text schlummernde Emotionswelt. Er hat ein unglaublich wandlungsfähige Stimme und macht dadurch die Lesung - ohne Musik und Geräusche - recht abwechslungsreich. Er individualisiert jeden Protagonisten und brilliert bei der Herausarbeitung versteckter Pointen. Sehr lustig ist Louis' Chef beim Radiosender, ein eingewanderter Russe. Folglich verleiht ihm Wameling einen russischen Zungenschlag, der allerdings schon einen gehörigen amerikanischen Einschlag beim gerollten R anklingen lässt. Auch das Tempo versteht er einfühlsam zu regulieren, so dass der Hörer mitbekommt, wann eine Rückblende beginnt. Und in zärtlichen Szenen wie zwischen Renee und Louis ist er unschlagbar in seiner feinfühligen Darstellung. Ein echter Pluspunkt. Da kann man schon mal über seine Charleys-Tante-Stimme für bestimmte Frauenfiguren hinwegsehen ;-) Das Booklet bietet Informationen zu Autor, Sprecher und Produktion.
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