Cover des Buches Hier bin ich (ISBN: 9783462048773)
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Rezension zu Hier bin ich von Jonathan Safran Foer

In Krankheit und in Krankheit

von serendipity3012 vor 7 Jahren

Rezension

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serendipity3012vor 7 Jahren
In Krankheit und in Krankheit

„In Krankheit und in Krankheit. Genau das wünsche ich dir. Suche oder erwarte keine Wunder. Wunder gibt es nicht. Nicht mehr. Und der Schmerz, der am meisten wehtut, kann nicht gelindert werden. Den Schmerz des anderen ernst zu nehmen und für ihn da zu sein – das ist das einzige Heilmittel.“ S. 332

Jacobs und Julias Hochzeit ist ungefähr 15 Jahre her, als die beiden sich noch einmal an die Worte Deborahs, Jacobs Mutter, erinnern. Ungewöhnliche Worte auf einer Hochzeitsfeier, mahnende, oder zumindest doch solche, die den beiden einen gesunden Realismus auf den Weg mitgeben wollen, die sie wappnen sollen. Gesundheit, so der Rückschluss, „Gesundheit“ gebe es eigentlich gar nicht.

15 Jahre später steckt die Ehe von Julia und Jacob dann trotzdem in einer tiefen Krise. Während der älteste Sohn Sam kurz vor seiner Bar Mizwa steht, auf die er eigentlich gar keine Lust hat, die aber stattfinden soll, „weil man das eben so tut“, während Jacobs Großvater hochbetagt in eine Seniorenresidenz umziehen soll, worauf dieser ebenfalls keine Lust hat und überlegt, sich stattdessen vielleicht lieber umzubringen und während auch die beiden jüngeren Söhne Max und Benji ihren Teil der elterlichen Aufmerksamkeit für sich beanspruchen, stehen Jacob und Julia plötzlich vor der Frage, ob bei all der Liebe zu den Söhnen die Liebe füreinander auf der Strecke geblieben ist. Sam soll außerdem im Religionsunterricht ein paar „schlimme Wörter“ geschrieben haben, was er bestreitet – die Eltern können sich nicht einigen, ob sie dem Sohn Glauben schenken (sollen) oder nicht – ohne Geständnis und Entschuldigung steht die Bar Mizwa in Frage. Jacobs Cousin Tamir aber ist schon fast auf dem Weg in die USA, sein Teil der Familie lebt in Israel. Jacob versteht und definiert sich als Jude, gläubig ist er aber nicht.

„Hier bin ich“, der neue, sehr seitenstarke Roman von Jonathan Safran Foer, malt ein Bild von Jacob und seiner Familie, wobei Jacob stets im Mittelpunkt dieses Bildes steht, die Geschichte meist von ihm ausgeht. Es sind oft seine Gedanken, Gefühle, sein Leben, seine Zerrissenheit, seine Wünsche, die im Mittelpunkt stehen. Julia und er führen ein finanziell abgesichertes Leben, beide sind um die 40 und an einem Punkt angelangt, an dem sie sich fragen, ob sie mit dem, was sie erreicht haben, zufrieden sind. So weit, so normal. Mitten in diese Orientierungsphase, in der vor allem die Frage steht, ob Jacobs und Julias Ehe noch zu retten ist, passiert eine Katastrophe in Israel, die sie alle betrifft und die schließlich das Weltgeschehen und die Krise Julias und Jacobs miteinander in Verbindung bringt (wobei beides von Foer literarisch in Beziehung gesetzt wird, wenn die Ebenen sich spiegeln) und die womöglich entscheidend für ihr weiteres Leben ist.

Dass diese Figuren trotz der teilweisen Detailverliebtheit Foers immer ein wenig schwer zu fassen bleiben, ist sicher kein Zufall. Dass Jacob um die immer gleichen Fragen kreist, um das, was er erreicht hat und was er zu diesem Zeitpunkt erreicht haben wollte, um seine Söhne, vor allem, die er liebt und doch loslassen muss, während er nicht weiß, was er will, nicht zu einem Ergebnis kommt, das ist nur konsequent. Foers Roman ist für mich eine zwiespältige Leseerfahrung: Foer legt den Finger in die Wunde, entblättert das Innere seines Protagonisten gekonnt – trotzdem blieb dieser Jacob mir meist fremd und mit ihm seine gesamte Familie.

Die Frage, ob Romanfiguren sympathisch sein müssen oder sollen, wurde schon oft gestellt und (von mir) immer wieder verneint – dennoch ist es einfacher, in einen Roman zu versinken, wie es hier der Fall hätte sein können, wenn man als Leser in den Charakteren etwas findet, an dem man sich festhalten kann. Das hat oft etwas mit der von mir empfundenen Schlüssigkeit einer Figur zu tun, die hinterhältig und fies sein kann, also keinesfalls zwingend sympathisch sein muss, die aber immer etwas Menschliches braucht, etwas Ambivalentes, etwas, das mich zu ihr zieht und mich an ihrem Leben teilhaben lassen möchte. Gerade im Mittelteil von Foers Roman aber war mir das Schicksal seiner Figuren über weite Teile egal. Ich empfand sie als nervig und besserwisserisch, ja, als selbstgerecht und als anstrengend in ihrem Bewusstsein, immer allen anderen um eine Nasenlänge voraus zu sein. Geschmackssache, sicher, mir hat Foers Zeichnung seines Personals zumindest teilweise die Lektüre erschwert, es haben mir Nuancen gefehlt, die andere finden. Trotzdem ist „Hier bin ich“ ein guter Roman. Ein Roman, dem aber auch ab und zu ein wenig die Puste ausgeht, in dem sich der Erzähler manchmal kurz verzettelt, den man sicher etwas hätte straffen können.

Was Foer gut gelingt: Er zeichnet ein Bild davon, was es heißt, in heutiger Zeit ein Jude zu sein, er benennt die Unterschiede zwischen den (im Roman säkularen) amerikanischen Juden und denen, die in Israel leben. Vor allem macht er deutlich, dass die heutigen Juden wie die Deutschen von klein auf etwas mitbekommen: So wie wir mit der Schuld aufwachsen, mit dem Bewusstsein, „Täter“ oder doch zumindest Nachkommen von Tätern zu sein, so ist man als Jude stets Opfer. Hier wie dort – man kann nichts dagegen tun.

„Hier bin ich“ ist ein detailversessener Roman und Charakterstudie eines jüdischen Mannes in heutiger Zeit, manchmal ärgerlich, oft schmerzhaft treffend. Eine Lektüre, die sich für mich am Ende dann doch gelohnt hat.

„Ohne Liebe stirbt man. Mit Liebe stirbt man auch. Nicht jeder Tod ist gleich.“ S. 593

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