Cover des Buches Gullivers Reisen (ISBN: 9783717520788)
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Rezension zu Gullivers Reisen von Jonathan Swift

Entdeckungsreise und Gesellschaftskritik

von AenHen vor 6 Jahren

Rezension

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AenHenvor 6 Jahren
Gullivers Reisen – ein Klassiker, den man seit Jahrzehnten kennt, als Kinderbuch als Puppenspiel oder Zeichentrick, wenn ich mich recht erinnere. Und dann hält man das Buch in den Händen und merkt, dass man es nur in einer sehr abgespeckten, und nach Beendigung der Lektüre möchte man fast sagen, seiner Bedeutung beraubten, sträflich verkürzten Form kannte. Hätte man mich letzte Woche nach den Reisen des Gulliver gefragt, ich hätte geantwortet, erst war er bei den Liliputanern, die sehr sehr klein sind und dann bei einem riesenhaften Volk, dessen Name ich vergessen habe. Aus beiden Umständen entstehen eine denkbare Menge an Problemen, in beiden Situationen schafft er es aber letztlich in freundschaftlichen Kontakt mit seinen ungleichen Gastgebern zu treten, verbringt einige Zeit in den wunderlichen Ländern und gelangt dann durch glückliche Umstände wieder zurück in seine englische Heimat. Doch dies ist weit weniger als die halbe Wahrheit oder der halbe Inhalt. Denn Gulliver unternimmt nicht zwei, sondern insgesamt vier unglückliche Schiffsreisen. Die dritte führt ihn zu einer schwebenden Insel, die mittels eines magnetischen Diamanten über ihrem Festland schwebt, also die bekannten Naturgesetze dort nicht gelten und die vierte zu einem Landstrich, in dem nicht die menschliche Rasse sondern Pferde die zivilisierte Gesellschaft darstellen, demnach vertauschte Rollen herrschen.
Allen vier Reisen ist gemein, dass Gulliver in Kontakt mit den Herrschenden der jeweiligen Ländern nicht nur in Kontakt sondern in lebhaften Austausch über Staatsführung, Werte, Moral, Politik, Gerichtswesen, Wissenschaft und Erziehungswesen, gesellschaftliche und menschliche Phänomene tritt und dabei immer die ihm bekannten englischen oder europäischen Maßstäbe hochhält und dabei auf vollkommenes Unverständnis, Unglauben und Kritik seiner fremden Gesprächspartner trifft. Besonders deutlich wird dies bei den letzten beiden Reisen – jenen die so oft offensichtlich weggelassen werden, um eine Abenteuergeschichte statt einer Politsatire zu erschaffen.

Denn so muss Gullivers Reisen gelesen werden. Ein satirischer, politkritischer, religionskritischer und gesellschaftskritischer Roman ganz im Sinne der frühen Aufklärung, in deren Einfluss der Entstehungszeitraum in den 1720er Jahren fällt. Und das erschreckende oder kuriose dabei ist, man kann ihm eine gewisse Aktualität auch heute nicht absprechen. Selbstverständlich leben wir heute in einer vollständig veränderten technisierten Welt und nicht in absolutistischen Staaten, aber viele Aspekte, ob sie nun Politik, Machtstreben, Verwaltung, menschliche Schwächen oder Erziehung betreffen, sind offensichtlich sehr zeitlos und vollkommen problemlos auf heutige Verhältnisse übertragbar.

Ein lesenswerter, oder neu-entdeckenswerter Klassiker, den man selbstverständlich nicht so locker leicht herunterliest wie einen x-beliebigen Krimi, der aber in jedem Falle empfehlenswert und einfach auch sehr interessant ist.

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