Rezension zu Die Stadt der Sehenden von José Saramago
Rezension zu "Die Stadt der Sehenden" von José Saramago
von awogfli
Rezension
awogflivor 12 Jahren
Saramagos Roman ist ein brilliantes Lehrstück, wie politische Anarchie funktionieren könnte. Dabei geht es nicht um den Begriff der Anarchie im vernaderten Sinne wie Gesetzlosigkeit, Chaos... sondern im ursprünglichen Sinn: Abwesenheit von Herrschaft, Selbstorganisation, Dezentralisierung. Bei einer Wahl haben mehr als 80% der Stimmberechtigten der Hauptstadt weiss gewählt. Die politischen Funktionäre aller Parteien rechts wie links sind erbost, können jedoch gegen die einzelnen Personen nichts unternehmen, da so eine Aktion ja nicht gesetzeswidrig ist. Nach zahlreichen Bespitzelungs- und Verhaftungsaktionen, Verhängung des Kriegsrechts... wird die Stadt hermetisch abgeriegelt und alle zentralen politischen Funktionäre, Polizei, Gerichte.. abgezogen. Danach wartet man händereibend auf das Chaos und gar nichts passiert. Die Stadt beginnt sich selbst zu organisieren, die Leute helfen einander und einige von der Zentralregierung gedungene Saboteure werden komischerweise korrumpiert, indem sie den Verrat verraten, also völlig unmotiviert gut und altruistisch handeln. Genial werden die ständigen Versuche der bösen Herrschaft (Premierminister, Innenminister, Präsident) beschrieben, mit unlauteren und kriminellen Mitteln die absolute Kontrolle wieder an sich zu reissen und wie sie an der gut organisierten Anarchie und im ethischen Selbstverständnis verankerten kooperativen Philosophie der Stadtbewohner scheitern. Ab der Mitte kommen auch noch die Figuren des Romans Die Stadt der Blinden vor. Dies ist aber wirklich eine völlig konträre Geschichte. Saramagos Werk sagt, dass arnarchische Selbstorganisation nicht immer so wie bei allen Revolutionen (Spanien, Russland) enden muss, indem die auf zentrale Herrschaft ausgerichteten Organe letztendlich über die dezentrale Selbstorganisation triumphieren und diese vernichten. In kleinen Bereichen kann sie funktionieren. Irgendwie erinnert mich das Buch und das Konzept an ein sehr aktuelles Thema: WIKILEAKS und Netzneutralität die derzeit von der Internetcommunity vertreten bzw. gelebt werden. Grandioses Werk! Nun ja wie es ausgeht kann ich nicht verraten.