Rezension zu "Wenn der Kapitän als Erster von Bord geht" von Burkhard Voß
So ist ein Abschnitt in diesem Buch überschrieben. Die beiden gegenwärtigen deutschen Regierungsparteien sind geradezu ein hervorragendes Beispiel dafür. Heruntergewirtschaftet bis zur Unkenntlichkeit von Frauen und laschen Männern. Es würde nicht schwer fallen, noch andere Baustellen in dieser Republik aufzuzählen, an denen es ähnlich aussieht.
Gleichzeitig durchzieht eine Welle chronischer Überforderung das Land. So viele Psychiater wie tatsächlich gebraucht werden, nimmt man den gefühlten Zustand vieler Mitbürger ernst, gibt es nicht. "Je besser es uns geht, umso schlechter fühlen wir uns", schreibt der Autor. Und weiter: "Könnte es vielleicht daran liegen, dass wir immer unselbständiger werden, je mehr Hilfseinrichtungen und Mutterprothesen es gibt. … Aus Psychologisierung ist Infantilisierung geworden. Deutschland ist im Kindergarten."
Wer tatsächlich in der Welt herumgekommen ist, kann diese Selbstbemitleidung nicht begreifen. Der Ruck, der mal durch Deutschland gehen sollte, ist ausgeblieben. Was haben unsere Vorfahren eigentlich nach dem letzten Krieg gemacht? Wenn heute irgendwo etwas nicht gleich funktioniert oder ein kleines Unglück passiert, dann spricht man gerne und sofort vom ausgebrochenen Chaos. Man zückt das Smartphone und filmt es. Dieses Bild hat sich in meinen Kopf eingebrannt, weil es den wirklichen Irrsinn widerspiegelt. Was passiert wohl, wenn es mal richtig eng wird? Sitzen wir dann alle flennend in der Ecke?
Burkhard Voß, Neurologe und Psychiater, ist bekannt für seine pointierten Schriften. Er zeichnet in diesem Buch das Bild einer verrückt gewordenen, an sich selbst zweifelnden Gesellschaft. Vorne auf dem Cover liegt die gegen einen Felsen gelenkte Costa Concordia, deren eitler Kapitän feige ins erste Rettungsboot fiel und inzwischen bei einem hohen europäischen Gericht gegen seine berechtigte Strafe klagt. Hinten sieht man Mamoudou Gassama eine Häuserfront hochklettern, um ein am Balkon hängendes Kind vor dem Absturz zu retten. Nichts macht den Unterschied zwischen einer lebensmüden Gesellschaft und robusten Volksgruppen deutlicher als diese beiden Bilder.
Voß beschreibt den Zustand der deutschen und anderer westeuropäischer Gesellschaften mit deutlichen Worten. Ein wenig fehlte mir nach diesen Beschreibungen die Ursachenforschung. Sieht man sich die Gliederung und die Kapitelüberschriften an, dann wird jedoch schnell klar, was Sache ist: "Der Nanny-Staat, Kuschelpädagogik, Kuscheljustiz‚ #MeToo – die wahre Geschichte, Feminisierung der Gesellschaft oder Mimose Mann".
Im Osten Europas gab es keinen Feminismus und keine 68er-Bewegung. Frauen arbeiteten gleichberechtigt mit und wurden nicht von Ideologen gegen das andere Geschlecht aufgehetzt. Der sogenannte gesunde Menschenverstand und Vernunft beherrschten den Alltag. Bei den Hochwasser-Katastrophen an Oder und Elbe wurde angepackt, die Gesellschaft funktionierte in Selbstorganisation. Ein Zufall? Wohl eher nicht.
So stark und klar dieser Text in der Zustandsbeschreibung ist, so schwach ist er in der Analyse der Ursachen für das infantile Elend, das über das Land gekommen ist. Bekanntlich können überfürsorgliche Eltern Kinder zu mehr oder weniger lebensunfähigen Menschen erziehen. Das gelingt nicht immer, aber leider oft genug. Mit Gesellschaften klappt es offenbar auch, wenn man es nur lange genug mit voller Absicht durchzieht.
Die Sterne gibt es für die sehr gute Beschreibung.