"Können wir die Welt Verstehen?" von den Physikern Josef M. Gaßner und Jörn Müller ist ein populärwissenschaftliches Sachbuch, in dem sie die Leser auf eine gedankliche Reise durch die Forschungsgeschichte der Physik von Aristoteles bis zur Stringtheorie mitnehmen.
Dafür bedienen sie sich auch der Metapher einer Gipfelexpedition. Diese beginnt bei den "Hügeln" der klassischen Mechanik, des Elektromagnetismus und der Atomtheorie. Weiter geht es über die Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie, die Quantenmechanik und die Quantenfeldtheorien.
Schließlich führen die Autoren die Leser zu den hohen "Gipfeln" der Schleifen-Quantengravitation, der Stringtheorie, der Supersymmetrie und der Dunklen Materie und Energie. Besonders ausführlich befassen sich die Autoren mit der klassischen Mechanik, der Quantenmechanik und der Quantenelektrodynamik.
Die Erklärungen auf teils eher gehobenem populärwissenschaftlichem Niveau sind meiner Meinung nach meist wirklich gut verständlich, wobei es besonders in der zweiten Hälfte des Buches und vor allem im Bereich über die Quantenfeldtheorien für mich schon hin und wieder etwas kniffelige Stellen gab. Durch Abbildungen und Diagramme, die das Verständnis erleichtern, wird das Ganze ergänzt. Was auch zum Verständnis beiträgt, sind die vorkommenden Gedankenexperimente.
Wer dieses Buch lesen möchte, sollte aber nicht vor physikalischen Formeln zurückschrecken. Denn die Autoren erklären auch die Mathematik vieler der vorgestellten Theorien, wenn auch in unterschiedlichem Umfang und mit meist zum Beispiel dadurch vereinfachten Formeln, dass nur eine Raumdimension berücksichtigt wird. Dabei kommen auch schon einmal (einfache) Differential- und Integralgleichungen zum Einsatz. Aber wie Integral- und Differentialrechung funktionieren, wird kurz und meiner Meinung nach ebenfalls gut verständlich erklärt.
Von den Autoren zum Beispiel aufgrund der verwendeten Formeln als besonders schwierig betrachtete Stellen, die nicht unbedingt für das allgemeine Verständnis gelesen werden müssen, sind durch ein "Achtung, rutschige Straße"-Schild und ein "Freie Fahrt"-Schild markiert.
Man erfährt im Lauf des Buches zum Beispiel, wie Newton mithilfe der Erkenntnisse von Galilei zum freien Fall und den keplerschen Gesetzen auf sein Gravitationsgesetz gekommen ist und wie Planck aus dem Wienschen Verschiebungsgesetz und dem Rayleigh-Jeans-Gesetz sein eigenes Strahlungsgesetz gebildet hat.
Außerdem wird erklärt, wie die zeitunabhängige und die zeitabhängige Schrödingergleichung zustande kommen. Ab der Herleitung der zeitabhängigen Schrödingergleichung nimmt dann die Anzahl der im weiteren Text vorkommenden Gleichungen merklich ab.
Eingestreut im Text gibt es auch ein paar Einschübe, in denen Themen wie die Infinitesimalrechnung und die Fourier-Entwicklung erklärt werden. Auch die Herleitung des Planckschen Strahlungsgesetzes ist in einem der Einschübe, der auch als besonders schwierig markiert ist. Ich teile da aber nicht die Einschätzung der Autoren, da ich die Herleitung der Formel wirklich gut nachvollziehbar finde.
Im Lauf des Buches werden viele Physiker genannt und ihre jeweiligen Beiträge zu den erläuterten physikalischen Erkenntnissen beschrieben. Von vielen der Forscher gibt es auch bildliche Darstellungen und über das Leben von manchen erfährt man auch etwas. Außerdem gibt es auch Zitate einiger Physiker, unter anderem von Albert Einstein und Richard Feynman.
Gewürzt wird das Ganze mit etwas Humor hier und da. Zum Beispiel wird schon einmal der Passagier aus dem letzten Gedankenexperiment zuerst aus dem imaginären Raumschiff geworfen, bevor es mit neuer Fracht beladen wird.
Schmunzeln musste ich auch jedes Mal, wenn mal wieder eine Orange zum Einsatz kam, für die die Autoren ein besonderes Faible zu haben scheinen. Auch ansonsten ist der Schreibstil sehr angenehm und leicht zu lesen.
Am Anfang gibt es ein von Harald Lesch verfasstes Vorwort und einen Prolog von den Autoren als Einleitung in die Thematik des Buches, die beide Lust aufs Lesen machen. Am Ende folgt dann noch ein Epilog, der offenbar von Josef Gaßner stammt. Wie man aus seinen eigenen Worten schließen kann, scheint dieser trotz der Nennung von Jörn Müller auf dem Einband der eigentliche oder zumindest der Hauptautor des Buches zu sein.
An den Epilog schließt sich schließlich noch ein umfangreiches Stichwortregister zum gezielten Nachschlagen und die üblichen Quellennachweise an.
So ziemlich an jedem Kapitelanfang und manchmal auch an anderen Stellen gibt es QR-Codes, die zu Videos führen, die auch auf der Internetseite urknall-weltall-leben.de und dem Youtube-Kanal Urknall, Weltall und Leben der Autoren zu finden sind. In diesen erfährt man wohl mehr zu den im Buch angesprochenen Themen. Da ich persönlich aber kein Smartphone besitze, konnte ich die QR-Codes nicht nutzen.
Dennoch hat mir das Lesen im Großen und Ganzen aber viel Spaß gemacht und ich habe auch ein paar neue Dinge gelernt. Zum Beispiel kann ich jetzt etwas mehr mit den Begriffen Eichsymmetrie, Lie-Gruppen und abelsche Grupppen anfangen, da diese zumindest in den Grundzügen und mit anschaulichen Beispielen erklärt werden.
Ich hätte mir aber noch ein griechisches Alphabet mit der Aussprache der Buchstaben im Anhang gewünscht, da im Text nicht von allen in den Formeln verwendeten griechischen Buchstaben die Aussprache genannt wird.
Insgesamt gebe ich eine klare Kaufempfehlung für alle, die an Physik interessiert sind und sich dabei nicht von Formeln und dem, wenn auch stets populärwissenschaftlichen, teils eher gehobenen Niveau abschrecken lassen.