Rezension zu "Entstellt" von Amanda Leduc
(C.N.: Ableismus!)
„,Ich weiß nicht, wie Sie das machen‘, haben Wildfremde auf der Straße zu meinen behinderten Freund*innen gesagt, die Rollstühle und Gehhilfen nutzen. ,Wenn ich Sie wäre, hätte ich mich schon längst umgebracht.‘“
Nicht nur solche Aussagen zeigen, wie ableistisch unsere Gesellschaft ist.
Viele Nichtbehinderte können sich nicht vorstellen, dass ein Mensch behindert und gleichzeitig glücklich sein kann, und stellen sich stattdessen Verzweiflung und Verbitterung bei diesem vor.
Behinderung wird selten als ein neutrales Merkmal einer Person betrachtet, was viele Behinderte bevorzugen würden. Dagegen wird sie mit Schwäche oder verminderter intellektueller Fähigkeit assoziiert. „(…) in der westlichen Kultur, die Schönheit und Jugend verehrt, verknüpfen wir Entstellung, schwindende Schönheit und Alter mit etwas, das es zu fürchten, bemitleiden und um jeden Preis zu meiden gilt, damit wir uns nicht anstecken.“
Wie sieht es damit in Märchen aus?
Märchen leben von Extremen: Entweder sind die Figuren „schön“ und „gut“, oder „hässlich“ und „böse“ und oft geht es auch um „Andersartigkeit“, die teilweise als Behinderung bezeichnet werden kann.
In vielen Märchen tauchen Figuren mit geistiger und/ oder körperlicher Behinderung auf.
Nicht selten haben die Bösen eine Behinderung und manche von ihnen werden für ihren schlechten Charakter mit Behinderung „bestraft“ (z. B. bei „Aschenputtel“ werden den Stiefschwestern am Ende von Vögeln die Augen ausgepickt).
Und wenn behinderte Figuren keine Schurken sind, dann werden sie häufig am Ende aufgrund ihrer „Leistung“ durch Zauberei von ihrer Behinderung „erlöst“, oder heutige Superheld*innen (Märchenfiguren des 21. Jahrhunderts) bekommen dafür eine besonders wertvolle Fähigkeit, die die Behinderung „ausgleichen“ soll.
Diese „Erlösung“ als „Happy End“ setzt wieder voraus, dass Behinderung etwas Schlechtes sein muss, das man heilen muss/ möchte und widerspricht erneut dem Ansatz, Behinderung als eine neutrale Eigenschaft zu betrachten, für die die Gesellschaft und nicht das Individuum sich ändern oder etwas „leisten“ muss.
„Ich will nicht wie alle anderen laufen. Ich will nicht wie alle anderen sein. Aber manchmal fühlt es sich so an, als ob die Welt genau das von dir will.“
„Als behinderte Frau sehe ich Körper wie meinen so gut wie nie auf der Leinwand repräsentiert, ohne dass Zauberei im Spiel ist.“
„Es dauerte zweiundsiebzig Jahre bis zum ersten Disney-Film mit einer Schwarzen Prinzessin in der Hauptrolle. Fünfundfünfzig bis zu einer arabischen Prinzessin. Achtundfünfzig Jahre bis zu einer indigenen Prinzessin. Einundsechzig Jahre bis zu einer Prinzessin aus China.
Eine behinderte Prinzessin ist bis jetzt noch nicht in Sicht.“
- So hat die Prinzessin in den Märchen keinen Rollstuhl/ keine Gehhilfe (um keine „Schwäche“ zu symbolisieren) und auch kein auffälliges, „entstelltes“ Gesicht (um ja nicht als ausgestoßen oder „böse“ zu gelten), sie strahlt Perfektion aus.
- Dem „Mädchen ohne Hände“ wachsen die abgehackten Hände am Ende wieder nach.
- „Pinocchio“ bekommt beim Happy End eine „normale“ Nase.
- Zwerge werden als „lustige“ Zauberwesen dargestellt.
- „Arielle“ ergreift verzweifelt weitreichende Maßnahmen, um Gehen zu können.
- In „Rapunzel“ kann der erblindete Prinz am Ende wieder sehen.
- Der nicht dem „Schönheitsideal“ entsprechende „Quasimodo“ („Glöckner von Notre Dame“) wird in seinen Glockenturm gesperrt.
- „Scar“ hat in „König der Löwen“ nicht mal einen eigenen Namen.
- Die böse, alte Hexe hat einen Buckel und einen Gehstock.
„Behinderung dient als Metapher für Minderwertigkeit und Schlechtigkeit, als etwas, (…) das dem Glück im Wege steht und bestenfalls Mitleid verdient. Stets ist es das Individuum, das sich verändern und anpassen muss, nicht die Gesellschaft.“
Märchen sind mächtig. Durch sie werden wir unbewusst daran gewöhnt, Behinderung kaum wahrzunehmen und wenn, dann eher als etwas Negatives, oder als etwas, das es zu „überwinden“ gilt – sie prägen also unser Bild von Behinderung und unsere Einstellungen dazu, schon von Kindesalter an.
Behinderte identifizieren sich in Märchen überwiegend nur mit dem „Bösen“ und „Schlechten“ – wie soll man sich da zugehörig und nicht als schlechter Mensch fühlen?
„Ob es uns gefällt oder nicht: Die Geschichten, die wir als Kinder kennenlernen, formen die Welt, auf die wir treffen.“ Märchen haben Auswirkungen auf unsere Sprache, können Vorurteile entstehen lassen und wir nehmen Behinderten die Möglichkeit, sich als wertvoller und dazugehörender Teil der Gesellschaft zu erleben.
„Wenn Märchen auf dem Weg ins einundzwanzigste Jahrhundert ihre Wirkungskraft erhalten wollen, sind Entwicklung und Veränderung unerlässlich.“
„Die Welt muss andere Geschichten über einen Körper erzählen, der vielleicht wie meiner aussieht, und sich so verändern, dass alle hineinpassen.“
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MEINUNG:
Autorin Amanda Leduc verbindet in diesem Buch gekonnt Sachwissen (über Märchen, deren Entwicklung und Bedeutung, Behinderung, usw.) mit eigenen Erlebnissen und Erfahrungen.
Sie selbst hat Zerebralparese (hat bereits Gehilfe und Rollstuhl genutzt), schildert (eher knapp gehalten) ihren Weg zur Diagnose und wie es ihr damit in ihrer Vergangenheit ergangen ist – ein Leidensweg, auf dem ihr immer wieder zu verstehen gegeben wurde, dass sie als Behinderte eine Randfigur darstellt und keine Hoffnungen und Träume zu haben braucht.
Als Kind hätte sie sich bei Disney & Marvel so sehr Prinzessinnen mit Behinderungen gewünscht und war großer Fan von Arielle (die anfangs nicht gehen, aber sich anders bewegen kann).
Geschickt verwebt Leduc ihre eigenen Erfahrungen mit dem Blick auf behinderte Figuren/ Rollen in alten Märchen und deren neueren Adaptionen.
Dies lässt das Buch glaubwürdig, authentisch und weniger trocken erscheinen.
Die persönlichen Schilderungen (welche die Gesellschaft nicht als selbstverständlich ansehen sollte - jeder behinderte Mensch entscheidet für sich, was er von sich preisgeben mag) bringen Emotionalität in das Buch.
Leduc begrenzt sich in ihren detailreichen Ausführungen auf europäische Märchen, vor allem auf die von den Gebrüdern Grimm und Hans Christian Andersen. Sie greift bekannte, aber auch unbekanntere Märchen & Adaptionen (Disney) auf und ergänzt diese hier und da mit kurzen Einschüben von Superhelden-Geschichten (Marvel & Co.), den „modernen Märchen.“ Unbekanntere Märchen fasst sie nochmals knapp zusammen.
So geht sie u. a. auf folgende Geschichten näher ein: „Hans mein Igel“, „Mädchen ohne Hände“, „Die Schöne und das Biest“, das hässliche Entlein, Arielle/ die kleine Meerjungfrau, Rapunzel, Blaubarts Zimmer, Aschenputtel, Game of Thrones, usw.
Das Buch gibt einem viele gedankliche Impulse mit auf den Weg und zeigt auf, was bei der genaueren Betrachtung von Märchen mit behinderten Menschen auffällt. Welchen „Zweck“ Behinderung darin haben kann. Welche Rolle dabei die Merkmale und Entwicklung von Märchen spielen und was dies mit unserer Gesellschaft zu tun hat.
Vielleicht kann ich der Autorin nicht in allen Punkten 100 % zustimmen (z. B. dass der Begriff „ein behinderter Mensch“ der Bezeichnung „ein Mensch mit Behinderung“ zu bevorzugen ist).
Zudem gab es mir im Buch ein paar zu viele Wiederholungen und etwas zu wenig Struktur.
Dennoch hat die Autorin mich an vielen Stellen zum Nachdenken angeregt, viele Dinge waren mir vorher nicht so bewusst.
Vor allem lassen sich so zahlreiche Punkte ableiten, wie moderne Märchen und andere Geschichten gestaltet werden können und sollten, damit sich auch Menschen mit Behinderung mit Held*innen identifizieren können und als wertvoller, dazugehörender Teil der Gesellschaft sichtbar werden und teilhaben können.
Buchempfehlung und 4-4,5/5 Sterne!