Cover des Buches Der lange Weg (ISBN: 9783813502701)
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Rezension zu Der lange Weg von Joseph Boyden

Rezension zu "Der lange Weg" von Joseph Boyden

von WinfriedStanzick vor 12 Jahren

Rezension

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WinfriedStanzickvor 12 Jahren
Eine neue, erfrischende literarische Stimme kommt da aus Kanada daher: Joseph Boydens erster Roman „Der lange Weg“ ist eine mitreißende, nachdenkliche und spirituelle Geschichte dreier Menschen und eine außergewöhnliche Erzählung vom Zusammenstoß zweier Welten und Kulturen. Joseph Boyden, der selbst indianische Vorfahren hat, wurde auf der Suche nach der Bedeutung indianischer Kultur für das heutige Kanada aufmerksam auf „die zahllosen indianischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg gekämpft haben sowie in all den anderen Kriegen, zu denen sie sich in so überwältigender Zahl freiwillig gemeldet haben.“ Pate für eine seiner Hauptfiguren im Buch stand Francis Pegahmagabow, ein Scharfschütze, Kundschafter und später Häuptling eines Stammes. Über 380 Todesschüsse standen auf seiner Liste im Ersten Weltkrieg, und Boyden nennt ihn einen von Kanadas größten Helden. Im Buch selbst wird aber eher die andere Seite der Heldentaten prononciert: die Lust am Töten, die mit jedem erfolgreichen Schuß stärker wird, das Elend, das sich mit jedem weiteren Toten nicht nur über ihn und seine Familie legen wird, sondern auch über die Seele des Schützen und die gefährliche Nähe zu dem, was die Indianer einen „windigo“ nennen, einen Menschenfresser, der, obwohl er aus großer Not und in eigener Todesangst gehandelt hat, aus der Gemeinschaft ausgetilgt werden muß, soll die Gemeinschaft keinen dauerhaften Schaden erleiden. Den Roman durchzieht in wechselnden Kapiteln eine Rahmenhandlung, in der die alt gewordene Schamanin Niska ihren Ziehsohn Xavier Bird 1919 schwer verletzt und kriegsversehrt aus der Stadt abholt, um ihn auf einer mehrtägigen Kanufahrt nach Hause zu bringen, und den Erinnerungen Xaviers an seine drei Winter zusammen mit seinem Freund Elijah auf den Schlachtfeldern Belgiens und Frankreichs einerseits, und der Lebensgeschichte der Schamanin Niska andererseits, die sie dem in morphiumgetränkten Träumen schlafenden Xavier auf der Heimreise erzählt, und aus der die gesamte Vorgeschichte von Xavier und Elijah verständlich wird. Xaviers Mutter, eine Schwester Niskas, ist am Alkohol der Händler der Hudson Bay Company süchtig geworden und gibt ihren kleinen Sohn in ein katholisches Internat. Der lernt dort nicht nur die schmerzhaften und gewalttätigen Versuche der Nonnen kennen, seine Sprache und Kultur auszumerzen, sondern auch einen anderen Jungen aus dem Stamm der Cree, mit dem ihn bis zu dessen Ende eine zwillingsähnliche Freundschaft und Bruderschaft verbinden wird. Niska entführt Xavier eines Tages aus dem Internat und lebt mit ihm einsam in den Wäldern, bringt ihm das Jagen bei, das er binnen kurzem zur Perfektion vervollkommnet und legt die spirituellen Grundlagen dafür, daß er dereinst in ihre Fußstapfen als Schamane und Windigo-Jäger treten kann. Deshalb lässt sie ihn auch bewusst Zeuge sein, als sie tagelang einen Fall von Kannibalismus im Stamm verfolgt und den Täter schließlich Kraft ihres Amtes tötet. Nach einigen Jahren mit Niska spürt Xavier, daß er einen Gefährten braucht, und Niska holt Elijah, der all die Jahre nur während der Ferien bei ihnen im Wald war, ganz zu sich. Elijah lernt schnell von Xavier, aber Xavier spürt auch schnell und immer wieder irritiert, daß Elijah beim Jagen etwas anderes empfindet als er, etwas, das er nicht versteht und das ihm manches Mal Angst macht. Unter der Führung von Niska wachsen sie miteinander auf, unternehmen schon bald ausgedehnte Jagdzüge und ernähren die kleine Familie durch den Handel mit den Fellen der von ihnen erlegten Tiere. Von den Händlern hören sie auch von dem großen Krieg jenseits des großen Wassers, und sie ruhen nicht, bis Niska mit schwerem Herzen sie dorthin ziehen lässt. Als sie später während ihrer Anfälle Bilder der europäischen Schlachtfelder sieht, weiß sie, warum sie sich solche Sorgen macht. Während ihrer Kanufahrt in die Stadt, wo die jungen Männer rekrutiert werden, überleben die beiden jungen Cree-Indianer nur knapp einen verheerenden Wald- und Flächenbrand. Doch er ist nur ein Vorgeschmack auf das, was ihnen in Europa an Feuer bevorsteht. Dort reüssieren beide bald zu berühmten Scharfschützen, über die man über die Fronten hinweg mit Bewunderung und Furcht spricht. Elijahs Wesen, seine Lust am Töten kommt dabei immer mehr zum Vorschein, so daß Xavier gegen Ende des Krieges, als er Elijah in den Windigo-Wahnsinn abgleiten sieht, ermutigt durch einen Brief seiner Tante Niska, eine schwere Entscheidung trifft ... Ich habe in meiner Jugend die einschlägige Romanliteratur zum Ersten Weltkrieg verschlungen; sie hat damals meine pazifistische Haltung mitbegründet. Nun, 35 Jahre später, lese ich in diesem Romandebüt eines jungen Kanadiers Schilderungen von eine sprachlichen Gewalt und Dichte, wie ich sie so vorher nicht erlebt habe. Aber auch die Rahmenhandlung mit der Lebensgeschichte der Schamanin Niska ist von einer beachtlichen spirituellen Qualität. Man spürt regelrecht, wie hier eine Jahrtausende alte Kultur sich verzweifelt wehrt gegen die Moderne, aber außer der eigenen Geschichte und Spiritualität der mörderischen und zerstörerischen Gegenwart nichts entgegenzusetzen hat. Und so erzählt Niska ihrem Neffen und Nachfolger Xavier Geschichte um Geschichte und hofft, daß er davon wieder heil wird. „Morgen werden wir zu Hause sein“, sagt sie am Ende des Romans. Ob es noch ein zu Hause für Xavier geben wird, ob sich das Gesicht Niskas erfüllen wird, in dem sie ihn, Kinder lehrend und aufziehend, ihre Nachfolge ausfüllen sieht, bleibt offen. Ein großer Roman, der den Leser umfasst und einhüllt, ihn mitnimmt und fortträgt in eine dramatische Geschichte von Krieg und Gewalt, Freundschaft und Entfremdung und über Spiritualität und Hoffnung. Dieses Buch ist ein literarisches Erdbeben, das von den Seismographen der Kritik nicht unbeachtet bleiben wird.
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