Rezension zu "Erinnerungen an Leningrad" von Joseph Brodsky
Das schmale Büchlein „Erinnerungen an Leningrad“ besteht aus zwei Essays - „Weniger als man“ und „In eineinhalb Zimmern“. In diesen Aufsätzen setzt sich Brodsky mit seiner Vergangenheit, seiner Kindheit, seinen Eltern und seinem Heimatland - der UdSSR - auseinander.
Schon früh wird Joseph Brodsky klar, dass dieses totalitäre System in das er als Kind jüdischer Eltern rein geboren wurde nicht zur freiheitlichen Gestaltung des eigenen Lebens taugt. Anders als seine Eltern, die sich „arrangiert“ haben, die die Kulturrevolution unbeschadet überstanden, der Belagerung St. Petersburg und der damit verbundenen Hungersnot im zweiten Weltkrieg trotzten und nun, nach all diesen Strapazen, sich einem stetig wachsenden Antisemitismus ausgesetzt sahen, ist dieses Land, dieses System mit all seinen kleinen und großen Hindernissen keine lebenswerte Option. Brodsky eckt an und wird schließlich des Landes verwiesen. In den USA findet er eine neue Heimat. Dort kann er ein unbeschwertes Leben führen, jedoch mit dem Verzicht erkauft - die eigenen Eltern niemals wiederzusehen. Er selbst kann nicht zurück, seine Eltern dürfen nicht raus. Der letzte Wunsch der Eltern, den Sohn vor dem eigenen Tode noch einmal wiederzusehen bleibt verwehrt. Der ungeliebte Staat gewinnt am Ende.
>>Ach, jene wöchentlichen Anrufe in die UdSSR! Der ITT ist es noch nie so gut gegangen.
Wir konnten bei diesen Gesprächen nicht viel sagen; wir mußten entweder zurückhaltend oder unaufrichtig euphemistisch sein. Es ging meistens um das Wetter oder die Gesundheit, nie um Namen, sehr viel um gesunde Ernährung. Die Hauptsache war, gegenseitig die Stimme des anderen zu hören und uns somit auf animalische Weise unserer Existenz zu versichern. Das meiste war ohne Bedeutung, und es ist ein Wunder, daß ich ich mich an keine Einzelheiten erinnere, außer an die Antwort meines Vaters am dritten Tag des Krankenhausaufenthalts meiner Mutter. „Wie geht es Masja?“ fragte ich. „Na ja, Masja wird nicht mehr, weißt du“, sagte er. Das „weißt du“ sagte er, weil er selbst bei diesem Anlaß euphemistisch sein wollte.<<
Brodskys Erinnerungen sind klar, glaubhaft und von solch einer Natürlichkeit durchzogen, die einen auch schon mal den Boden unter den Füßen weg ziehen kann. Erinnerungen an ein Leben, ein Schicksal, an geliebte Menschen und Orte, denen jedoch bis zu Brodskys eigenem Lebensende jedwede Möglichkeit eines Wiedersehens verwehrt wurde. Absolut lesenswert!