... Diese Alten kamen mir merkwürdigerweise nicht wirklich alt vor, doch ich hatte das Gefühl, dass sie schon lange unter uns weilten und alles wussten. Ihre Geschichten waren noch viel älter als sie selbst. ...
Der Lakota-Indianer Joseph M. Marshall teilt mit uns in diesem kleinen Band den Erfahrungsschatz seiner Vorfahren. Und der ist außergewöhnlicher, als es auf den ersten Blick aussieht. Schon die Einleitung ist etwas Besonderes. Selten hat mich bereits ein Vorwort so berührt.
Jeder ältere Mensch ist eine Sammlung an Geschichten ...
Die Geschichtensammlung in diesem Buch beginnt mit einer bei uns lange vergessenen Tugend, der Bescheidenheit. Der berühmte Krieger Three Horns ruft kurz vor seinem Tod alle Freunde zusammen, um ihnen von der bishlang unbekannten Heldentat seiner bescheidenen Frau No Mocassins zu erzählen. Es folgt die völlig andersartige Geschichte von Iktomi, dem Gauner. - Auf so eine Idee muss man erstmal kommen: Iktomi ist zu ungeschickt, um sich selber etwas zu essen zu erjagen, also schlägt er sich mit Durchtriebenheit durch und überredet Mato, den Bär, zu einem erstaunlichen Zweikampf ... Bescheidenheit? Hier ist es wohl der Bär, der davon zu wenig hat. Iktomi hat davon gar nichts ... Diesem verschlagenen Charakter begegenen wir später noch einmal in der Geschichte vom Gaunerlied - meiner Meinung nach einer der genialsten Geschichten der Sammlung - die die Charaktereigenschaft der Wahrheit veranschaulichen soll. Die Erzählungen sind in zwölf Kapiteln zusammengefasst, die nach verschiedenen indianischen Tugenden benannt sind: 1. Bescheidenheit 2. Beharrlichkeit
3. Respekt 4. Ehre 5. Liebe 6. Aufopferung 7. Wahrheit 8. Mitgefühl 9. Tapferkeit 10. Innere Stärke 11. Großzügigkeit 12. Weisheit. Das bei uns heute völlig ungebräuchliche Wort "Tugend" versteht man nach der Lektüre völlig neu und wundert sich, wie es so lange in Vergessenheit geraten konnte.
Manches sind Parabeln oder Sagen, manches kleine Alltagserzählungen. Der Autor flicht sich immer wieder dezent in die Erzählungen ein, indem er zum Beispiel erwähnt, von wem er diese oder jene Geschichte erzählt bekam oder wer von seinen Verwandten den Protagonisten zu kennen meinte. Dadurch bekommen die Geschichten etwas Authentisches; man erfasst die enge Verknüpfung des Autors mit der Tradition. Zudem würzt er die Episoden mit seinen eigenen philosophischen Betrachtungen und versteht es immer wieder, den Kapiteln eine schlüssige Abrundung zu geben.
Bei aller Weisheitslehre und Sagenhaftigkeit sind viele der Erzählungen gleichzeitig aber auch wunderbare, spannende Abenteuergeschichten. Wir lesen von der weißen Büffelfrau, einem Pferdedieb, dem sein Mitgefühl das Leben rettet, einem jungen Mann, der aus Liebeskummer zum Flötenbauer wird, von einer mysteriösen Riesenschlange, einem sabbernden mädchenfressenden Riesen, oder auch von zwei Liebenden, die nach langer Trennung schließlich glücklich vereint werden und im Tod zu zwei Pappeln werden, deren Blättergesang die gebrochenen Herzen trösten kann. Eine absolute Gänsehautgeschichte war für mich die Geschichte vom Adler. Sehr phantastisch, aber auch sehr wahrhaftig. Es ist die Lakota-Version von der großen Flut ... Und es gibt noch mehr solcher erstaunlichen Parallelen zu unserem abendländischen, bibelgeprägten Geschichten- und Gedankengut, für den, der sie entdecken mag.
Was mir besonders gut gefällt, ist der natürliche Respekt vor Frauen, der, obgleich die Tradition für sie eine bestimmte Rolle vorsieht, überall durchscheint und sie gleichwertig macht.
Dieses Buch ist eine Entdeckung. Eine Wiederentdeckung. Beispielsweise hat der moderne Mensch, teilweise durch harte Erfahrungen, gelernt, dass großzügiges Verhalten nur ausgenutzt wird und man dieses daher ablegen sollte. Die Lakota aber haben in einem Jahrtausende alten Erfahrungsschatz bewiesen, dass Großzügigkeit nicht nur eine wichtige Tugend ist, sondern auch das Überleben sichert.
Ein Buch, das mich immer wieder unerwartet tief berührt hat.
"Das Leben hält Geschenke bereit, wenn wir wissen, wo wir zu suchen haben", antwortete die alte Frau.
Dieses Buch ist ein Geschenk.
Joseph M. Marshall
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
Alle Bücher von Joseph M. Marshall
Bleib auf deinem Weg
Der stille Pfad
Spaziergänge mit Großvater
Die Lehren von Pfeil und Bogen
The Lakota Way
The Journey of Crazy Horse
Neue Rezensionen zu Joseph M. Marshall
Vielleicht ist das gerade das Thema dieses Buches. Gleich zu Beginn beschreibt Joseph M. Marshall wie arrogant ein großer Teil der sogenannten modernen Menschen über die Vergangenheit ihres Geschlechts hinweggeht. Sie würden so tun, schreibt er, als ob das, was man gerne als zivilsatorische Errungenschaften bezeichnet, allein ihr Werk wäre. Die Mühsal und das Streben früherer Generationen, auf denen unsere heutige Welt technologisch und geistig beruht, würde einfach vergessen oder belächelt werden. Eine solche Herangehensweise zeuge nicht gerade von Weisheit.
Und um Weisheit geht es in diesem Buch. Marshall erzählt, was ihn sein Großvater gelehrt hat. Bei den Lakota hätte man auf den Rat der Weisen, der Ältesten gehört, obwohl sie keine formale Autorität besessen hätten. Und man hätte auch vom Verhalten der Tiere gelernt. So findet man im Text eine rührende Geschichte, wie Wölfe eine Frau vor dem Tode retteten. Ob sie tatsächlich stimmt, sei einmal dahingestellt.
Man kann Marshalls Geschichten als poetisch und weise empfinden, was sie sicherlich auch zum größten Teil sind. Allerdings sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass es im Zusammenleben jeder menschlichen Gruppe zwangsläufig verschiedene Interessenslagen und die entsprechenden Konflikte gibt und gegeben hat. Das wird auch in den indianischen Dorfgemeinschaften nicht anders gewesen sein. Dass diese Gemeinschaften bei Marshall romantisierend idealisiert werden, kann man ihm nachsehen, denn seine Geschichten sollen schließlich ewig gültige Weisheiten transportieren. Und das gelingt ihnen recht gut.
Eine ganz andere Frage ist dabei allerdings, ob man die idealisierten Zustände in indianischen Dorfgemeinschaften auf arbeitsteilige und weitestgehend anonymisierte Großgesellschaften der Moderne so einfach übertragen kann. In solchen Gesellschaften verlaufen viele Prozesse aufgrund essentiell anderer Voraussetzungen auch völlig anders. Etwa die Ausbreitung von Informationen oder gesamtgesellschaftliche Entscheidungsfindungen.
In kleinen Gemeinschaften jedoch ändern sich die ungeschriebenen Gesetze des Zusammenlebens innerhalb einer Kultur wohl nur langsam, wenn überhaupt. Das sichert Stabilität und Vertrauen. Wer sich anschickt, sie aus welchen Gründen auch immer zerstören zu wollen, riskiert den Untergang der Gemeinschaft. Und genau das scheint mir das eigentliche (und in Wirklichkeit sehr aktuelle) Thema dieses Buches zu sein, dem noch eine CD mit Sagen und Legenden der Lakota beigefügt ist.
Die Aufforderung "bleib auf deinem Weg" durchzieht das Büchlein von Joseph M. Marshall wie ein Mantra und erinnert den Leser immer wieder daran, dass er seinen ganz eigenen, individuellen Weg in seinem Leben finden muss. Doch vererst kann er dem Gespräch zwischen Großvater und Enkel lauschen, das über kleine Geschichten von der Weisheit der Lakota erzählt. Der Enkel stellt Fragen über Schmerz, Tod, Verlust und den Sinn des Lebens. Der Großvater antwortet, manchmal direkt, manchmal durch eine Gegenfrage, um den Enkel auf eine ganz eigene Antwort zu bringen.
Die bildhafte Sprache fließt dahin wie ein Fluss und nimmt den Leser mit, mal reißend, mal ganz sanft, aber unaufhaltsam auf das große Meer der Weisheit zu. Wer diese zu nutzen weiß, wird der Botschaft sicher mühelos folgen und mutig auf seinem Weg bleiben können.
Das Büchlein bescherte mir sehr inspirierende, wundervolle Lesemomente ... vielen Dank dafür ;o)
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