Rezension zu "Joe Goulds Geheimnis" von Joseph Mitchell
Mitchell eine Geschichte zweier Männer - die von Joe Gould und die von sich selbst.
Menschen wie Gould sind in der heutigen Zeit rar geworden. Sie werden in geschlossene Abteilungen gesteckt und mit Medikamenten vollgepumpt. Über ihre Lebensgeschichten und Erfahrungen möchten die meisten nichts wissen. Dieses Buch ist eine Zusammenfassung zweier Porträts, die Mitchell im New Yorker über Gould geschrieben hatte. Sie ergänzen sich, sind nicht redundant, sondern runden das Gesamtbild ab. Mitchell hat hier natürlich mehr als ein Porträt über einen Nomaden oder einen auf der Straße lebenden Exzentriker geschrieben. Er macht es sich nie einfach, bleibt immer auf Distanz, orientiert sich an Fakten (was zunehmend schwieriger wird) und verfasst alles in kühler, sachlicher Sprache. Mitchell lernt Gould als eine Art Gescheiterten kennen - einem Menschen, der sich trotz bester Voraussetzungen - wohlhabendes Elternhaus, Studium in Harvard, nie auf die Verheißungen der modernen Gesellschaft eingelassen hat. Gould lebt auf den Straßen, schnorrt sich durch, gehört nirgends dazu, ist sein eigener König, kommuniziert lieber mit Tauben als mit Menschen. Angeblich arbeitet er seit Jahren an seiner "Oral History", einer Art Enzyklopädie der Zeit. Dieser Text, "länger als die Bibel", soll bereits über mehr als zwanzigtausend Seiten verfügen, eine Melange aus Notizen, mitgehörten Gesprächen und eigenen Verschriftlichungen Goulds. Mitchell kann das alles sehr gut einsortieren, er recherchiert, berichtet über die teilweise enervierenden Gespräche mit Gould, der auch immer mehr zu einem Fixpunkt in Mitchells Leben wird, und über die zwei Gesichter - das eine einfühlsam und mitteilsam, sanftmütig und belesen, das andere krass, drastisch, exaltiert und wütend. Mitchell ist involviert, es sind intime Szenen, die er schildert, wenn Gould über Familie, insbesondere seinen Vater und seine Jugend spricht, aber er begeht nie den Fehler, fasziniert zu sein. Es wird nie anrührend, nie emotional, er erliegt auch nie der Verführung, den Leser irgendwie manipulieren zu wollen, was bei einer Figur wie Gould sicherlich sehr einfach gewesen wäre. Er bleibt immer Journalist, der sich auf der Suche nach Wahrheiten befindet, der ergründet und hinterfragt und sich auch im richtigen Moment zurückziehen kann. Was bleibt von Gould übrig, ist er ein vergessenes Genie, ist er ein Scharlatan, ein Hochstapler? Und ist das noch wichtig?
Im Laufe des Buchs wird die Auseinandersetzung mit Gould und seiner Oral History vertrackter, zäher, langsamer, und es wird auch immer mehr zu einer Auseinandersetzung zwischen Autor und der Person Gould, was alledem zugrunde liegt - das wird nie in aller Deutlichkeit ausgesprochen, aber der Leser spürt förmlich, wie es in Mitchell arbeitet, wie er um eine eigene Position ringt. Was im letzten Drittel des Buches dann folgt, ist an leiser Tragik, meisterhaft, neutral, knapp beschrieben, kaum mehr zu überbieten.
Ein Buch, das für mich mehr Fragen als Antworten liefert. Heute werden Charaktere wie Gould in einer überhöhten, romantischen Folklore besungen und dargestellt, weil sie eben nicht mehr in unserer Selbstverständlichkeit, in unserer Realität vorkommen, das kann schnell zum Kitsch ausarten. Mitchell hatte es allerdings mit einer Echtheit, einer Leibhaftigkeit zu tun, mit den alten Fragen nach den Grenzen von Fiktion und Fakt - er hat stellvertretend auch eine Geschichte über nicht erzählte Geschichten geschrieben, über die Lebensgeschichten der Vergessenen nämlich, die sich weder dem Zwang zum sozialen Aufstieg verschworen noch als Konsument in einer bunten, allumfänglichen Warenwelt taugen.