Cover des Buches Das falsche Gewicht (ISBN: 9783257801972)
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Rezension zu Das falsche Gewicht von Joseph Roth

Rezension zu "Das falsche Gewicht" von Joseph Roth

von HeikeG vor 16 Jahren

Rezension

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HeikeGvor 16 Jahren
Ein Schubert der Prosa "Roth konnte Stimmungen und Erfahrungen, die gewöhnlich nur in Musiken auszudrücken sind, in Sprache übersetzen. Etwas Ähnliches wie ein Schubert der Prosa ist er auf diese Art geworden.", schrieb André Heller in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. So wie der Komponist wohl einzigartig seine Gefühle in Musik einfließen ließ, so drückte sie der 1894 in Brody, einer mittelgroßen Stadt im damals österreichischen Galizien, geborene Roth in seinen Texten aus. Wer war dieser Joseph Roth, von dem solch eindrucksvolle Werke wie "Hiob", "Hotel Savoy", "Radetzkymarsch" oder "Die Legende vom heiligen Trinker" stammen? Ein Poet, ein Journalist und wie alle Juden ein Opfer des Dritten Reiches, außerdem ein stets von neuem enttäuschter Moralist, ein Augenzeuge seiner Zeit, rastlos, empfindsam und aggressiv zugleich, im Grunde seines Herzens ein Träumer und Menschenfreund, verletzlich wie ein Kind, lebensuntüchtig und anfällig für Depressionen, "ein Spezialist für verlorene Menschen", meinte einmal sein Freund Hermann Kesten. Widersprüchlich wie sein Wesen, sind auch die Aussagen seiner Freunde über ihn gewesen. "Roth war schwermütig", sagen die einen. "Er war leichtlebig", behaupten die anderen." "Er liebte das Militär", heißt es weiter und: "Er hasste das Militär", "er war Leutnant in der k. u. k.-Armee", "er war ein Sozialist", "er war ein Monarchist", "er war ein Glaubensjude", "er war ein eifriger Katholik". Von sich selbst sagte er, er sei "böse, besoffen, aber gescheit." "Sie wogen in der Hand und sie maßen mit dem Aug." Seinen ergreifenden Kurzroman "Das falsche Gewicht" schrieb er 1937 im Pariser Exil. Er spielt in der Gegend von Brody, dem Ort seiner Herkunft. Sein Protagonist heißt Anselm Eibenschütz, der Ort der Handlung Zlotogrod. Hier in diese vom Zentrum am weitesten entfernte Region des ehemaligen k. u. k.-Reichs, an der russischen Grenze, vollendet sich das Leben des Eichmeisters Eibenschütz. Seiner Frau Regina zuliebe hat er seinen Dienst bei der Armee quittiert. Aus dieser geregelten, von Befehlen und Ordern bemessenen Welt gerät er in eine Gesellschaft, in der Betrug, Gaunerei und Lüge Notwendigkeit und Folge einer zerbröckelnden Zeit darstellen. Der Not der kleinen Leute - Händler, arme Schlucker, Tagediebe, Deserteure und Halunken, die allesamt nicht wissen, wie und womit sie die kommenden Tage überleben - steht er gesetzesgemäß gnadenlos und hart gegenüber. Doch das Grenzgebiet ist eine düstere, eine "giftige Gegend", in der die Gesetze des Staates keine Gültigkeit mehr zu haben scheinen: "Denn die Leute in dieser Gegend betrachteten alle jene, welche die Forderungen an Recht, Gesetz, Gerechtigkeit und Staat unerbittlich vertraten, als geborene Feinde. Sie wogen in der Hand und sie maßen mit dem Aug. Es war keine günstige Gegend für einen staatlichen Eichmeister." Als er erfährt, dass seine Frau ihn betrügt und ein Kind von seinem Schreiber erwartet, ist auch die Ehe des Eichmeisters Eibenschütz zerstört. In Leibusch Jadlowkers Grenzschenke sieht Eibenschütz die schöne Zigeunerin Euphemia Nikitsch, deren Zauber ihn zur völligen Unterwerfung und willenlosen Hingabe an sie führt: "Als sie auf ihn zutrat, war es ihm, als erführe er zum ersten Mal, was ein Weib sei. Ihre tiefblauen Augen erinnerten ihn, der niemals das Meer gesehen hatte, an das Meer. (...) und ihr dunkelblaues, schwarzes Haar ließ ihn an südliche Nächte denken, die er niemals gesehen, von denen er vielleicht einmal gelesen oder gehört hatte." Er verfällt ihr und dem Alkohol. Das Aufeinanderprallen von Recht, Gesetz und Redlichkeit auf der einen Seite und dem von Not und Armut, aber auch von moralischer Indifferenz und Gewinnsucht geprägten Wesen der Zlotogroder Menschen auf der anderen Seite, lässt den Eichmeister Eibenschütz das "rechte" Maß, die "richtige Gewichtung" nicht finden. "Ach er war in einer gar schlimmen Lage, der Eichmeister Eibenschütz. Weh, sehr weh tat ihm sein eigenes Schicksal. Das Gesetz einzuhalten, war er entschlossen. Redlich war er, redlich und sein Herz war gütig und streng zugleich. Was sollte er machen mit der Güte und Strenge zugleich? Zu gleicher Zeit läutete in seinen Ohren das goldene Läuten der kleinen Ohrringe der Frau Euphemia." Es wird ihm unmöglich, sein Denken und Handeln nach Maßen einzurichten, und letztendlich wird er selbst zu einer zwielichtigen Gestalt, wie die Menschen, die ihn umgeben. Sein Untergang ist nicht aufzuhalten und klingt wie bei einer Schubertschen Sonate wehmütig-elegisch aus. Warmer, ruhig fließender Erzählton "Joseph Roth ist als Schriftsteller ein ausgesprochen visueller Typ. Er sieht vor allen anderen. Sein Auge wird schöpferisch. Ob es ein Mensch, ein Bergwerk, eine Zivilisation ist, zuerst gewahrt er das äußere Bild, die Form, das offen Sichtliche. Er sieht so lange und von soviel Seiten auf sein Objekt, bis er hineinsieht und es durchschaut.", schätzt Hermann Kesten sehr treffend den Autor Joseph Roth ein. Einfach und klar ist sein Stil, sehr anschaulich und detailliert seine Menschen- und Landschaftsbeschreibungen. Der Schriftsteller schafft es, einer leblosen Sache solchen Ausdruck zu verleihen, dass der Leser/Hörer Dinge mit diesem Gegenstand assoziiert: beobachtendes Denken könnte man es nennen. Auch Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki ist des Lobes voll: "Joseph Roth war ein barmherziger und unerbittlicher Erzähler zugleich: Er litt mit seinen Geschöpfen, er verurteilte sie nie. Aber er tauchte sie in das klare Licht, in dem alle Details deutlich werden." Die schwach dialektgefärbte, aber ungeheuer eindringliche Stimme des österreichischen Schauspielers Joseph Lorenz passt wunderbar zu Roths bildhafter Sprache. Sein warmer, ruhig fließender Erzählton, der geradezu prädestiniert für diesen tiefgründigen Roman ist, zieht den Hörer in seinen Bann und versetzt ihn in die Zeit der k. u. k.-Monarchie. Auch er trägt entscheidend dazu bei, dass man bei Roth Farben, Stimmen und Stimmungen psychisch, ja beinahe physisch erfahren kann. Das Buch wurde 1971 unter der Regie von Bernhard Wicki u. a. mit Helmut Qualtinger und Agnes Fink, verfilmt und erhielt 1972 das "Filmband in Gold" für Regie, Kameraführung, Nebenrolle und darstellerische Leistung. Fazit: Ein abgelegenes Grenzdorf Galiziens als Schauplatz einer Tragödie, die den Verfall der Donau-Monarchie in erschütternder Deutlichkeit anhand des tragischen Schicksals des Eichmeisters Eibenschütz zeigt, hervorragend intoniert von Joseph Lorenz. "Jede Seite, jede Zeile ist wie die Strophe eines Gedichts gehämmert mit dem genauesten Bewusstsein für Rhythmus und Melodik." (Stefan Zweig)
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