Rezension zu "Das Salz der Erde" von Joseph Wittlin
Jeder Mensch hat etwas, wovon er sich trennen muß. (S. 21)
Für einen altersschwachen Kaiser bedeutet Krieg nicht mehr als eine Unterschrift. Ein paar Buchstaben auf einem beschrifteten Blatt Papier, und für seine Untertanen, für die Bevölkerung der gesamten Welt, verändert sich von einem Moment auf den nächsten alles. Familien werden auseinandergerissen, Blut tränkt den Boden. Auch wenn Joseph Wittlin mit Das Salz der Erde einen Roman über den Ersten Weltkrieg geschrieben hat, schildert er doch sehr präzise die sich immer wiederholende Mechanerie, die hinter solchen Kriegen steht, die Bedeutungslosigkeit des einzelnen Lebens. Eines dieser Leben ist das des Protagonisten Peter Niewiadomski, ein einfacher Bahnwärter vom Land. Einerseits zufrieden mit seiner Arbeit, seinem Hund, seiner Geliebten, strebt er doch nach etwas Höherem, nach etwas von Bedeutung, und so erscheint ihm anfangs die Einberufung als Soldat im Auftrag der k. u. k. Armee als Auszeichnung, darf er doch auf diese Weise direkt dem Kaiser dienen. Doch gleichzeitig beschleichen ihn auch Zweifel, spürt er schon, wie bedeutungslos der einzelne Mensch ist auf dem Weg in den Krieg.
Dies scheint das Schicksal aller Menschen zu sein, die ihr Leben immer an einem Ort verbracht haben. Wenn irgendeine höhere Gewalt sie unerwartet aus dem Mutterboden reißt, werden sie sich fremd. (S. 153)
Wittlin entfaltet die Handlung des Romans sehr langsam. Überaus detailliert erfährt man Hintergründe und Alltag von Peter Niewiadomskis Leben, den Beginn des Krieges und die Auswirkungen auf das Huzulendorf, in dem er lebt, dann den Vorgang der Musterung, die Reise und die Ankunft im Ausbildungslager, all das eingewoben in die realen historischen Ereignisse, in Siege und Niederlagen, in den Tod des Papstes. Hierbei schwenkt der namenlose Ich-Erzähler auch immer wieder auf andere Figuren, auf andere Perspektiven, sodass die Auswirkungen der Ereignisse nicht nur auf den einfachen Mann vom Land, sondern auf viele Persönlichkeiten dargelegt werden, sei es der jüdische Militärarzt, der entscheidungsüberforderte Pfarrer, der linientreue Stabsfeldwebel oder andere Menschen, denen Peter im Laufe des Romans begegnet. Mitunter wirkt der Text sehr ausführlich in den Details, an einigen Stellen redundant, doch dafür entschädigt die dezente Poesie und der sehr fein gezeichnete ironische Humor, der trotz des ernsten Themas immer wieder hervorblitzt.
In Friedenszeiten zählt die Gemeinde jedem Menschen vor, daß er das einundzwanzigste Lebensjahr vollendet hat, und jeder muß sich beim Militär melden. Blind, hinkend, taub, buckelig – einerlei: einmal im Leben muß sich jeder stellen. Beim Militär ist es nämlich wie in der Heiligen Schrift: alle sind berufen, aber nicht jeder ist auserwählt. (S. 48)
Aus der Perspektive eines einfachen Landbewohners schildert Joseph Wittlin in seinem 1935 erstmals erschienenen Roman die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf die Menschen, die ihn für die Mächtigen austragen mussten. Auch wenn der Roman kein Frontbericht ist, sondern vor allem die langsame Bewusstwerdung eines einzelnen Menschen nachzeichnet von der Ausrufung des Krieges bis zur Einberufung und Ankunft im Ausbildungslager, zeugt er von klarer Beobachtungsgabe und vielseitiger Reflexion. Letztlich ist es vor allem ein Roman, der den Weg eines einfachen Mannes auf der Suche nach Bedeutung hin zur Wandlung zum Soldaten beschreibt, der als Individuum jegliche Bedeutung verliert.