Cover des Buches Das Salz der Erde (ISBN: 9783596905805)
TochterAlices avatar
Rezension zu Das Salz der Erde von Joseph Wittlin

"Unbekannt bleibt der erste Mensch, der in diesem Kriege sein Leben verlor"(S.28)

von TochterAlice vor 9 Jahren

Rezension

TochterAlices avatar
TochterAlicevor 9 Jahren
So Joseph Wittlin zum Abschluss seines eindrucksvollen Prologs in seinem Roman "Das Salz der Erde". 1935 erstmals erschienen, geht es hier um den ersten Weltkrieg und zwar wie! Der Pazifist Wittlin schildert den Krieg aus einer besonderen Situation: aus der, wie die Soldaten gemustert, eingezogen und in den Krieg geschickt werden, der "Einverleibung", wie er diesen Akt des Einswerdens mit der Armee bezeichnet.

Wittlin findet starke und kraftvolle Worte, sowohl, um die Lage im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn als auch die Perspektive des kleinen Mannes, der noch nichts von der Welt gesehen hat und nun in den Krieg ziehen muss, eindringlich zu schildern.

Zunächst ist die Richtung des Romans durch vorneweg ausgesprochene Erkenntnisse zum 1. Weltkrieg, übergreifende Beobachtungen, nur schwer abzusehen: es ist das, was man über diese Zeit weiß und auch wieder nicht, wunderbar poetische Darstellungen der Beziehungen zwischen Familien und Paaren im Aufbruch, kurz vor dem Grauen, als die meisten noch einen positiven Blick auf die anstehenden Ereignisse haben.

Doch dann setzt Wittlin den Fokus auf den "kleinen" Bahnwärter Peter Niewiadomski, der im wahrsten Sinne des Wortes aus den Karpaten kommt und dort ein mehr als beschauliches Leben lebt: Es ist ein vollkommener Kontrast, wie dieser einerseits bauernschlau und auf der anderen Seite total einfältig und „unbeleckt“ daherkommt. Durch ihn bekommen wir einen Eindruck, wie schwer und gnadenlos das Leben vor dem 1. Weltkrieg in ländlichen Gebieten ist und auf seine Sicht auf Frauen, die, so denke ich, dem damaligen Zeitgeist und seiner Situation vollkommen entspricht. Eines Tages - es ist Sommer 1914, also der absolute Beginn, wird auch er einberufen und mit seiner Schilderung der diesbezüglichen Vorgänge schreibt Wittlin m.E. Literaturgeschichte. Hier ein Beispiel:

"In jenen Tagen wurden die Körper der Männer gewogen und gemessen. Man sortierte sie nach Gattungen, man klaubte sie aus wie Kartoffeln, wie Früchte, vom Baume des Lebens geschüttelt. Man nahm sie in Massen: schockweise, zentnerweise, waggonweise, und warf alles weg, was ungeraten war, verdorben, krank." S. 60
Was für eine Darstellung des Verbrauchs an menschlichem Material! Ich habe dieses Verheiztwerden und Anonymisieren noch nie in einer so gelungenen Darstellung gelesen und wünsche mir, dass viele Leser sich diese Schilderung zu Gemüte führen.

Dann die Beschreibung der Musterung - wie man Stuhl für Stuhl dem Ort des Geschehens immer näher rückt. Wittlin zieht hier einen Vergleich mit dem jüngsten Gericht (S.65): auch dies ist zutiefst eindrucksvoll und macht deutlich, warum das Buch als ein großer pazifistischer Roman bezeichnet wird!

Wittlin führt im Verlauf der Handlung weitere Figuren ein, die aus anderer Perspektive als Niewiadomski eine Sicht auf das damalige Leben geben und jeder für sich die Handlung abrunden, so bspw. den jüdischen Militärarzt Dr. Jellinek, den Staatsfeldwebel Bachmatiuk, einen sehr interessanten Charakter, der durch verschiedene Marotten etwas von einer Comic-Figur hat(s. 206 ff.) und Korporal Rezytylo, in Niewiadomskis Augen der Leibhaftige persönlich.

Auch faszinierend die zeitgeschichtlichen Ereignisse, die in die Erzählung einfließen, wie beispielsweise der Tod von Papst Pius X im Sommer 1914.

Wittlin versteht es, mit seinen Worten Bilder der geschilderten Szenarien zu malen, die tief in das Innere des Lesers eindringen und sich dort festsetzen, so bspw. von der Verabschiedung der Rekruten durch alle Dorfbewohner. Ungeheuer beeindruckend und farbig, es ist ein Genuss, dies zu lesen!
"Die erste Nacht beim Militär barg Geheimnisse" so Wittlin: Geheimnisse, die man besser nie erfahren hätte, finde ich - und er auch, wie im Laufe der Handlung deutlich wird! Dieser Roman bezieht sich sozusagen auf die Zeit, bevor die Geheimnisse sich offenbaren.

Bei der Lektüre wurde mir rasch klar, weswegen dieser Autor einst für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen wurde - dieser Roman ist ein so kraftvoller, vielschichtiger und elementarer Beitrag zur Literaturgeschichte, dass ihn sich kein Freund der Literatur des 20. Jahrhunderts entgehen lassen sollte. Eine Leseerfahrung der besonderen Art!
Angehängte Bücher und Autor*innen einblenden (2)

Was ist LovelyBooks?

Über Bücher redet man gerne, empfiehlt sie seinen Freund*innen und Bekannten oder kritisiert sie, wenn sie einem nicht gefallen haben. LovelyBooks ist der Ort im Internet, an dem all das möglich ist - die Heimat für Buchliebhaber*innen und Lesebegeisterte. Schön, dass du hier bist!

Mehr Infos

Hol dir mehr von LovelyBooks