Cover des Buches Das gläserne Meer (ISBN: 9783832197971)
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Rezension zu Das gläserne Meer von Josh Weil

Ein großes russisches Märchen.

von Floh vor 9 Jahren

Kurzmeinung: ich vergebe 4 versiente Sterne für dieses literarische Meisterwerk!

Rezension

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Flohvor 9 Jahren
Ich habe kaum ein Buch gelesen, das mich so lange gefangen hielt und zwischen Abbruch und Weiterlesen hin und her riss!
Meine Erwartungen an Josh Weils Schreibkunst und seinem neuesten Werk „Das gläserne Meer“ waren enorm hoch angesetzt, ....wer hoch stapelt, kann tief fallen, habe ich mir damit ein Eigentor geschossen, indem ich meine Vorfreude und Erwartungen so gesteigert habe?...
Trotz aller Hingerissenheit und Schwierigkeit, ist "Das gläserne Meer" ein kostbares Stück Literatur, welches mich dennoch nach all der Zweifel zwischen Weiterlesen und vorzeitigem Beenden des Buches äußerst zufrieden und stolz zurück lässt!
Erschienen im Dumont Verlag (http://www.dumont-buchverlag.de/sixcms/detail.php?template=start)

Zunächst hervorgehoben: dieses Buch ist keine leichte Kost! Wer Josh Weil bereits kennt, wird sich aber in seinem Stil und Talent verlieren, wer keine anspruchsvollen Lektüren mag, der wird mit diesem Roman kein Glück haben. An die Leser, nicht genug bekommen können von poetischen Bildern, wortgewandten Dialogen, gehobener Sprache und erstaunlichen Intellekt haben: bitte greift zu diesem Werk und lasst euch verwöhnen mit schicksalhaften Begegnungen und einer komplexen Handlung.

"Weit draußen auf dem Wasser, weit jenseits der Insel, berührte der Saum des Sees das Ende der Welt, und an dieser Stelle war der Himmel eine dünne rote Linie, gemalt von einem Blutstropfen." (Seite 9)

Inhalt / Beschreibung:
"Die Zwillinge Jarik und Dima sind von Geburt an unzertrennlich. Nach dem Tod des Vaters wachsen sie auf dem Bauernhof ihres Onkels auf, die Tage verbringen sie in den Kornfeldern und die Nächte im Bann der mythischen Geschichten aus dem russischen Sagenschatz. Jahre später arbeiten die Brüder Seite an Seite in der Oranzeria, dem gigantischen Gewächshaus, das sich hektarweit in alle Richtungen erstreckt. Dieses gläserne Meer wird von im Weltall schwebenden Spiegeln beleuchtet, die das Sonnenlicht rund um die Uhr auf die Erde werfen – ein künstlich geschaffener ewiger Tag, der die Produktivität der Region verdoppeln soll. Bald ist die Arbeit das Einzige, was sie verbindet: den robusten Jarik, verheiratet und Vater zweier Kinder, und Dima, den Träumer, der allein bei der Mutter lebt. Doch eine Begegnung mit dem Besitzer der Oranzeria verändert alles: Während Dima sich ambitionslos dahintreiben lässt, wird Jarik immer weiter befördert, bis sie schließlich zu Aushängeschildern gegensätzlicher Ideologien werden. ›Das gläserne Meer‹ ist ein großer Roman über den Preis unserer Träume und Ideale, hochpoetisch und angefüllt mit der Magie russischer Märchen."

"Sie hatten dieselben großen Fäuste, waren beide groß gewachsen, hatten dieselben groben Knochen. Köpfe rund wie Kugelhämmer, Haare so schwarz wie die Flügel des Raben, Augen wie das Grau der Brustfedern jenes Vogels, vermengt mit dem Blau des Himmels." (Seite 17)

Handlung:
Der Roman gliedert sich in zwei Ebenen aus Vergangenheit und Gegenwart. Eine träumerische Kindheit zweier Geschwister bei dem sonderbaren und ebenfalls von Träumen getriebenen Onkel. Eine Kindheit aus Geschichten, Märchen und freie Natur. Die Gegenwart beschreibt den Zerfall der Familie, ein Größenwahnsinniges Projekt eines Weltkonzerns, Raubbau, verschlungene Natur, schwindene Freiheit, Arbeit, Arbeit und noch mehr Arbeit, Gruppendynamik, Positionswechsel,
Abhängigkeit, Geld und Prestige… „Das gläserne Meer“ wird zum globalen Verriss des Größenwahnsinns. Fiktional und doch real. Wie weit würden die Menschen gehen? Wer wird gezwungen mitzuziehen? Welchen Preis zahlt man für einen Arbeitsplatz? Sinnfragen untermalt mit Sinnbildern, die beim Lesen dieses Werkes entstehen… Ein Bauprojekt, welches die Zwillinge entzweit.

"War es möglich, dass es mit der Oranzeria einfach immer so weiter ging? Ein Meer aus Glas, das niemals zu wachsen aufhörte, das immer wieder über das Land kroch, getrieben von Hunger, der nicht zu stillen war?" (Seite 112)

Meinung:
Wie schon erwähnt, waren meine Erwartungen an dem Buch von Beginn an sehr hoch. Dementsprechend groß war auch mein Wunsch, dass mir dieses Buch einfach gefallen muss. Doch bis ich wirklich Freude und Lesevergnügen empfinden konnte, benötigte es doch eine Aufwärmphase von knapp 160 Seiten. Der Schreibstil erlaubt zunächst kein einfaches lesen und setzt Zeit und Muße sowie Konzentration voraus. Passagen und Fakten die man zuvor gelesen hat, setzten sich erst mit fortschreitenden Seiten zusammen und ergeben einen Sinn. Manches erklärt sich aber auch erst sehr viel später, oder erst beinahe am Ende des Buches. Der Leser sollte also Geduld für das knapp 670 Seiten starke Werk mitbringen. Stellenweise muss ich mir leider gestehen, dass mir dann auch der Anspruch und die Umsetzung der Handlung einfach etwas vorausgeeilt sind. Dieses Niveau muss der Leser erstmal halten können. Sprachlich gekonnt, und sehr beeindruckend. Keine Frage, aber dennoch konnte ich bis fast zur Mitte nicht ausmachen, wohin mich dieses Buch leiten möchte. Allein der gekonnte Perspektivenwechsel gab dann immer wieder Klarheiten. Ich wankte ehrlich gesagt zwischen Abbruch und Weiterlesen. Zum Glück siegte die Neugier, denn jetzt bin ich stolz, dieses Meisterwerk der hohen Schreibkunst und des großen Intellekts gelesen und aber auch genossen zu haben! Trotz der Schwierigkeiten für mich, dem hohen Niveau standzuhalten, bin ich sehr begeistert von dem Buch. Was vor allem an den Beschreibungen und der wortgewandten Sprache liegt. Josh Weil hat eine Poesie in seinem Schreibstil, welche unvergleichlich ist, zudem schmücken jedes neue Kapitel wunderbare Illustrationen die einen sehr verbundenen und außergewöhnlichen Stil widerspiegeln. So hat mich der Autor als Leserin gewonnen, er lässt durch seinen Ausdruck und seiner Worte eine Atmosphäre entstehen, die einen sofort in den Bann zieht und in die Zeit aus Kindheit und Arbeitswelt in einem Russland der anderen Macht reisen lässt.

"Die Finger fest ineinander verkeilt, die Knöchel ein Saum, der über die Oberfläche seines Schädels lief, die Arme erhoben, die Ellbogen gespreizt und die Mündung einer Pistole im Kreuz: So hatte Jarik seinem Boss nicht gegenüberstehen wollen." (Seite 561)

Charaktere:
Josh Weil besitzt das Talent, die einzelnen Charaktere dem Leser besonders nahe zu bringen. Vor allem die Zwillinge Dima und Jarik. Weil ist es gelungen, die Macht und die Besonderheiten dieser Charaktere auszumachen und unglaublich genau einzufangen. Ihre Hintergründe, Prägung und Beweggründe werden dem Leser jedoch erst schrittweise deutlich und klar gemacht.
Dima: sagenhaft polarisierender Hauptcharakter, ein Träumer. Er verliert sich in seinen Gedanken, malt Bilder im Kopf und lässt diese für den Leser lebendig werden. Dima ist irgendwie immer der Jüngere, der Mitläufer, der Unsichtbare. Doch auch er besitzt seine Stärken.
Jarik: er erscheint als der ältere, er ist sachlich, wird von allem und jeden geliebt. Er gründet eine Familie und arbeitet hart. Er wird befördert. Doch zu welchem Preis?
Das überzeugende bei Autor Josh Weils Umsetzung und Darstellung der Protagonisten ist, wie er einfache kleine Handlungen der Charaktere detailliert beschreibt, bei denen man sich oft selbst ertappt fühlt. So werden diese auf den ersten Blick unbedeutsamen Taten zu großen Schlüsselelementen im Buch.
Das ist auch der Grund, wieso das Buch einem so lange im Gedächtnis bleibt und man nach dem "Durchhalten" so stolz und fasziniert ist: Weil man Josh Weils Botschaften, seinem Märchen und seiner Phantasie folgen kann! Die überschaubaren Rollen und Nebenrollen verkörpern diese menschlichen Züge sehr genau. Der Autor fängt das damalige Leben und die Situationen in den Wirtschaftsjahren so gekonnt ein, dass man glaubt Teil der Handlung zu sein.

"Der Hahn schlug mit den Flügeln nach ihm. Er begann im Kreis durch den Schnee zu laufen. Es fühlte sich gut an, wenn die Flocken weich und kühl auf Dimas Gesicht landeten, aber dann schmolzen sie und waren nur noch kalt, und er glaubte zu verstehen…" (Seite 629)

Der Autor:
"Josh Weil, geboren 1976, wurde 2009 von der Jury des National Book Award zu den »5 Under 35« gezählt und erhielt 2010 für seine Novellensammlung ›The New Valley‹ (als ›Herdentiere‹ und ›Das neue Tal‹ bei DuMont erschienen) den Sue-Kaufman-Debütpreis. Er lebt mit seiner Familie in der Sierra Nevada. www.joshweil.com"

Fazit:
Es gehört für mich ohne Zweifel zu den größten Werken der Literatur! Voller Poesie und Atmosphäre. Wer hinter die Fassade, blickt und beim Lesen durchhält, wird mit einem kleinen Meisterwerk belohnt! 3,5 Sterne, die ich respektvoll aufrunde zu 4 Sterne!
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