Der israelische Dramatiker Joshua Sobol erzählt in seinem neuen Roman über vier Generationen und 100 Jahre hinweg eine humanistische und kritische Familiengeschichte. Dabei werden nicht nur aus viele Lebensgeschichten berichtet, sondern die Geschichte Israels wie auch des Nahostkonflikts gekonnt in Verbindung gebracht.
Im Mittelpunkt der aschkenasisch-jemenitische Familie Ben-Chaim stehen zwei starke Frauen. Eine davon Offizierin der israelischen Armee und Verhörspezialistin Libby. Nach einer beunruhigenden Begegnung mit einem mutmaßlichen Terroristen nimmt sie sich Auszeit und fährt zu ihrem Großvater Dave der - seit Tagen verschwunden ist - in der Kibbuz. Dort stößt sie auf die Tagebücher ihrer Urgroßmutter Eva und taucht fasziniert beim Lesen in ihr völlig unbekannte Welt ein. Eva Ben-Chaim lässt ihren Mann und Sohn in Kibbuz und reist in den frühen dreißiger nach Berlin, um Tänzerin und Choreografin aufzutreten. Dabei lernt sie viele jungen Nazis, revolutionären Theaterleute und den Dramatiker Bertolt Brecht kennen und geniest ihr Freiheit und pflegt freie Liebe. Sie erlebt, wie die Nazis an die Macht kamen und gerade rechtzeitig bringt sie sich in Sicherheit.
Der Roman ist eine gut gelungene, vor allem sehr vielschichtige israelische Familiensage. In 47 Kapitel und 520 Seiten lang habe ich die Familie Ben-Chain bei all den Höhen und Tiefen begleitet und dabei nicht nur Libby und Eva kennengelernt, sondern gesamte Großfamilie. Sobols Figuren sind lebensnah und facettenreich. Die sind wie Fingern am Hand, gehören zwar zusammen und doch zu sehr verschieden. Man feiert und leidet mit allen aber die Kopfschüttelmomente sind auch nicht wenig. Besonders seine Dialoge waren für mich ein Genuss. Man merkt schnell, dass der Autor langjährige Erfahrung als Theaterregisseur hat.
Mit seiner lebendige aber definitiv nicht einfacher Sprache hat mich Joshua Sobol nach heutigen und damaligen Israel mit genommen. Die Reise war nicht so einfach, viele detailreiche Charaktere/Nebencharaktere haben mein Weg erschwert, doch zum Glück gibt es eine Personenauflistung, die ich immer wieder nachgeschlagen hab.
„Der große Wind der Zeit“ ist ganz sicher kein Schmöker, welche in einem Rutsch lesen lässt. Doch dafür ist es eine sehr authentische, atmosphärische Werk. Wer an israelische Geschichte Interesse hat oder einfach in einer anderen Welt eintauchen möchte, kann ich dieses großartig erzähltes Buch nur ans Herz legen.
Joshua Sobol
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
Alle Bücher von Joshua Sobol
Der große Wind der Zeit
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Weiningers Nacht
Neue Rezensionen zu Joshua Sobol
Libby, Offizierin der israelischen Armee und Verhörspezialistin, begegnet bei einem ihrer Verhören einen jungen Mann, der behauptet ihr Großvater hätte seine Großmutter aus ihrem Land vertrieben. Dieser Satz bringt ein Gespräch ins rollen nach dem Libby Urlaub von der Armee nimmt und zu ihrem Großvater Dave in den Kibbuz fährt. Doch der ist spurlos verschwunden und niemand weiß wo er sich aufhält. Stattdessen findet Libby das Tagebuch ihrer Urgroßmutter Eva, die in den frühen 30er Jahren Kibbuz, Mann und Kind verließ um in Berlin als Tänzerin aufzutreten, bevor sie fliehen musste.
Leider muss ich direkt sagen, dass ich so meine Schwierigkeiten mit dem Buch hatte. Joshua Sobol hat eine sehr gehobene und literarische Sprache, fast schon philosophisch. Das klingt wunderbar und seine Protagonistin reden führen regelmäßig sehr tiefgründige Gespräche. Doch das wirkte auf mich manchmal zu gewollt oder zu viel. Es fiel mir schwer zu glauben, dass in einer Familie dauerhaft so geredet wird.
Auch der Aufbau des Buches macht es einem nicht gerade leicht. Denn man begleitet beim Lesen nicht nur Libby auf ihrer Reise in die Vergangenheit der Urgroßmutter, sondern auch die restlichen Familienmitglieder. Alle drehen sich um ihre eigenen Probleme, da gibt es den Onkel der an der Politik zweifelt, einer der hoch hinaus will in der Politik, einer der gerade seinen Job verloren hat und das Internet zerstören will, da ist der verschwundene Großvater Dave, der selbst auch manchmal zu Wort kommt, da sind betrogene Ehefrauen und Geliebte, da ist eine Nichte die aufräumen will mit den Lügen in der Familie. Das alles ist so unglaublich viel, dass ich kaum den Überblick behalten konnte. Hinzu kommt, dass die einzelnen Bereiche untergehen in der Masse und ich so schnell das Interesse verlor. Sicher habe ich auch nicht alles 100% richtig eingeordnet oder verstanden. Am interessantesten waren für mich die Passagen mit Dave, doch diese leider viel zu selten. Libby beginnt zu Zweifeln an dem was sie tut und verfolgt gebannt das Leben ihrer Großmutter. Aber auch hier fiel es mir schwer, mich darauf einzulassen, da man gleich wieder unterbrochen wird durch einen der anderen Erzählstränge.
Joshua Sobol hat einen sehr durchdachten und sprachlich ansprechenden Schreibstil. Doch "Der große Wind der Zeit" war mir zu überladen mit Themen, so dass ich mich auf keines richtig einlassen konnte. Mein Blick wurde stets abgelenkt von der Fülle an Personen. Dennoch greift er hier viele interessante Themen auf und vielleicht hätte das ganze als Bühnenaufführung noch besser funktioniert hätten um die verschiedenen Szenen und Momente klarer voneinander abzugrenzen.
Joshual Sobol ist vor allem als Dramatiker (Ghetto) bekannt. Mit "Der große Wind der Zeit" hat der israelische Autor nun aber auch einen epischen Roman geschrieben, der über vier Generationen einer Familie hinweg die Geschichte Israels wie auch des Nahostkonflikts erzählt und vor allem mit zwei starken Frauenfiguren beeindruckt.
Da ist zum einen Libby, eine junge israelische Soldatin, wegen ihrer exzellenten arabischen Sprachkenntnisse als Verhörspezialisin eingesetzt. Sie ist eine, die mit ihren Hinhörqualitäten Terroristen "geknackt" hat, ganz ohne Gewalt. Im letzten Verhör ihrer Armeezeit trifft sie auf Adib - Palästinenser, Historiker, in Großbritannien aufgewachsen. Er ist zum Begräbnis seiner von israelischen Soldaten erschossenen zwölfjährigen Cousine nach Israel gekommen und den Sicherheitsbehörden gewissermaßen qua Geburt suspekt.
Dass die Frau mit Kopftuch, die in seine Zelle geführt wird, ihm eigentlich Informationen entlocken soll, ist Adib sofort klar. Doch zwischen ihm und Libby kommt es zu einem Gespräch, bei dem sich zwei kritische Geister begegnen - heimlich schiebt er ihr seine email-Adresse zu, und Libby meldet es nicht, sondern erklärt ihn ihren Vorgesetzten gegenüber für harmlos. Ihre Diskussionen und Streitgespräche werden sie später fortsetzen.
Und da ist Eva, Libbys Urgroßmutter, Tochter einer großbürgerlichen Wiener Familie, die sich aus Protest gegen ihr Elternhaus dem Zionismus zugewandt hat und in den 1920-er Jahren zu den Mitbegründern eines Kibbuz gehört. Eva und ihre Gefährten sehen sich als Pioniere, als Revolutionäre, als Vertreter einer neuen Gesellschaft, die bürgerlichen Regeln trotzt, freie Liebe pflegt. Selbst unter den anderen Kibuzzniks ragt Eva mit ihrem Freiheitswillen noch heraus. Sie verlässt nicht nur ihren Gefährten, sondern auch ihren kleinen Sohn, um in Berlin Ausdruckstanz zu studieren und voller Lebenslust in die Metropole einzutauchen.
Als Libby nach ihrer Entlassung aus der Armee ihren Großvater in eben jenem Kibbuz besuchen will, findet sie sein Haus verlassen vor: Auch mit über 80 ist er, ähnlich wie seine Mutter, ein Freigeist, der auch nachts mit seiner Harley Davidson durch die Wüste donnert, auch durch die besetzten Gebiete. Statt ihres Großvaters findet Libby die Tagebücher ihrer Großmutter und taucht ein in deren wildes Leben wie in einen Film.
Als Leser begleitet man aber nicht nur Libby und Eva, sondern auch Großvater Dave, dessen Söhne und andere Familienmitglieder - ein Onkel Libbys lebt in einer Siedlung in den besetzten Gebieten, zweifelt aber immer mehr am Sinn der Siedlungspolitik. Libbys Vater ist ein rechtsgerichteter Politiker, ein anderer Onkel stellt sich nach dem Verlust seines Jobs die Frage, was er eigentlich mit seinem Leben anfangen will. Religiöse und säkuläre, politische Ränkeschmiede und Freigeister, Intellektuelle und Lebenskünstler - Sobol präsentiert wie in einem Mosaik Facetten der modernen israelischen Gesellschaft. Manchmal sind es nur kleine Szenen, was mitunter den Lesefluss auf den immerhin 520 Seiten erschwert. Doch immerhin: Gleich zu Beginn des Buches gibt es eine Auflistung der handelnden Personen zur besseren Übersicht.
Am eindringlichsten empfand ich dabei allerdings Eva und Libby. Eva als extrovertierte, lebenshungrige und völlig unabhängige Frau, die keine Berührungsängste hat und nicht nur trotz der Spannungen zwischen Neusiedlern und Beduinen eine leidenschaftliche Affäre mit einem Beduinen hat, sondern die auch in Berlin nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten Umgang mit Nazis hat. Dabei weigert sie sich zunächst, die Zeichen der Zeit als bedrohlich wahrzunehmen, auch als sie Zeugin der Bücherverbrennung wird:
"das ist alles Theater. Ein riesiges Theater. Überwältigend. Hitler ist eine theatralische Figur. Alles, was hier geschieht, einschließlich der Bücherverbrennung, ist ein gigantisches theatralisches Schauspiel, wie es noch nie in der Geschichte vorkam." Sie müsse unbedingt dabei sein, wenn dieses Ereignis seinen Höhepunkt erreicht.
Als ihr klar wird, dass das Theater zum tödlichen Ernst wird, versucht sie vergeblich, ihre Eltern zur Auswanderung zu überreden. Doch in ein Land ohne Theater, ohne Oper, ohne das, was sie als Zivilisation verstehen? Beide weigern sich. Sie werden die Shoah nicht überleben,
Steht Eva für die Gründerzeit Israels, steht Libby für die Gegenwart - eine nachdenkliche junge Frau, deren Freund bei einem Militäreinsatz ums Leben gekommen ist. Einen offenen Blick hat sie sich trotz dieses persönlichen Verlusts bewahrt. So ist der Dialog trotz aller gegensätzlichen Positionen zwischen Libby und Adib möglich. Jeder kennt die Argumente der anderen Seite auswendig, und erkennen die scheinbar auswegslose Situation, die Adib mit zwei streitenden Nachbarn, jeder mit einem halben Seil, auf dem Dach eines brennenden Hauses vergleicht:
"Sie haben die Wahl, entweder die beiden Seile zu verknüpfen, sich nacheinander vom Dach hinunterzulassen und heil au den Boden zu gelangen, oder zu versuchen, sich gegenseitig umzubringen, um die Seilhälfte, die fehlt, mit Gewalt an sich zu bringen, um sich vom Dach des brennenden Hauses abzuseilen."
Wird es eine Verknüpfung der Seile geben? Libby ist innerlich und äußerlich frei. Vielleicht ist sie eine von denjenigen, die einen Wandel herbeiführen. der letzte Satz lässt alles offen: "Kein Schluss - und nicht das Ende".
Gespräche aus der Community
Zusätzliche Informationen
Joshua Sobol wurde am 24. August 1939 in Tel Aviv (Israel) geboren.
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