Cover des Buches Obasan (ISBN: 0385468865)
Rezension zu Obasan von Joy Kogawa

Rezension zu "Obasan" von Joy Kogawa

von Ein LovelyBooks-Nutzer vor 13 Jahren

Rezension

Ein LovelyBooks-Nutzervor 13 Jahren
"Obasan" war einer der beeindruckendsten Romane, die ich im Jahr 2010 gelesen habe, und den ich überaus weiterempfehle. Es geht zunächst um ein sehr dunkles Kapitel der Geschichte Kanadas. Während des Zweiten Weltkriegs wurden hier die japanischstämmigen Kanadier - egal, wie lange sie schon in Kanada lebten oder ob sie dort geboren waren, deportiert und zur Zwangsarbeit gezwungen, und später in unbesiedelten Gegend in der Wildnis zwangsangesiedelt. Die Hauptfigur des Romans in Naomi Nakane, die in den siebziger Jahren als Lehrerin arbeitet. Ihre Großeltern, Eltern und ihre Tante sowie Naomi selbst erlebten während des Krieges die schmerzhafte Erfahrung der Deportation, der Enteignung und Entmündigung. Naomis Tante (Obasan ist das japanische Wort für Tante) hat die Vergangenheit verdrängt und spricht nicht darüber, und Naomi hat es ihr bisher gleich getan. Im Gegensatz dazu kämpft ihre Tante Emily für die Rechte der japanischstämmigen Minderheit, sie will die Vergangenheit aufarbeiten und Entschädigungen einfordern, auch wenn dies scherzhafte Wunden aufreißt. Naomi wehrt sich dagegen, doch nach und nach kann sie sich nicht entziehen - und da ist immer noch ein Geheimnis, denn niemand weiß, was während des Krieges mit Naomis Mutter geschah, die von einem Besuch in Japan nicht mehr zurück kehrte... Nach und nach erinnert Naomi sich an ihre Kindheit, so dass der Roman aus ihren eigenen Erinnerungen, aus ihren gegenwärtigen Erlebnissen und aus den Tagebucheinträgen ihrer Tante besteht. Man liest somit über die Erfahrungen während des Krieges, aber auch über aktuellen Rassismus, über die Erfahrung Naomis, immer noch nicht als Kanadierin anerkannt zu sein, auch wenn sie sich durch und durch so fühlt, kein japanisch spricht und noch nie ihrem Leben in Asien war. Man liest über ihre Erfahrungen mit europäischstämmigen Kanadiern, über die Ausgrenzung, die sie teilweise erfährt, über den Wunsch, die Vergangenheit zu verdrängen, über das Schweigen... Und auch über die Nationalität, denn egal, wie Naomi und Emily sich anstrengen: Sie werden nicht wirklich als Kanadier anerkannt, auch wenn die, die sie ausgrenzen, es waren, die im Krieg die kanadischen Werte der Toleranz und der Freiheit verraten haben, indem sie ihre Mitbürger denunzierten und sie der Freiheit beraubten. Ich habe von diesem Buch so viel gelernt, dass es schwer ist, dies in einer Rezension zusammenzufassen. Daher will ich nur sagen, dass man, auch wenn es von Kanada handelt und von einem Thema, das in Europa kaum bekannt ist, viel davon auf Deutschland übertragen kann. "Gehen Sie denn nochmal nach Japan zurück?" "Wo kommen Sie denn WIRKLICH her?" "Sie sprechen aber gut Englisch!" Diese Kommentare muss Naomi - die kein Wort japanisch spricht, noch nie dort war und die genauso kanadisch ist wie alle anderen - sich ständig anhören. Und wenn wir ehrlich sind, sind das genau die Kommentare, die wir oftmals unseren türkisch-, russisch- oder arabischstämmigen Mitbürgern an den Kopf werfen. Wir fühlen uns tolerant und weltoffen, aber dies heißt nicht, dass wir in unserem Denken wirklich so sind - oftmals ist man, auch wenn man es gar nicht will, trotzdem noch von Vorurteilen und einem "wir - sie"-Denken geprägt. Auf der anderen Seite geht es in dem Roman eben auch um Vergangenheitsbewältigung, und in Naomis Großeltern erkannte ich sehr gut meine eigenen, die aus Pommern und Westpreußen vertrieben wurden, und die wie Obasan die Ereignisse verdrängten und ihr ganzes Leben kaum darüber gesprochen haben. Wie gesagt - ich kann dieses Buch jedem nur empfehlen. Der Inhalt ist teilweise happig, aber es ist trotzdem nicht schwer zu verstehen, da Joy Kogawa alles in eine wunderbare, gut zu lesende Sprache verpackt. Ihr Stil ist einfach wunderbar, was es für mich zu einem noch beeindruckenderen Buch macht.
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