Wie Chemnitz zum Stadtteil von Bogotá werden könnte
von KirstenWilczek
Kurzmeinung: Ein gutes, wichtiges, herausforderndes Buch über die Wahrheit und das Ringen um die Deutungshoheit.
Rezension
Willkommen in der kolumbianischen Version von Don DeLillos „Sieben Sekunden“, in dem die Ermordung von John F. Kennedy in einem raffinierten Spiel aus Fakten und Fiktion literarisch hinterfragt wird. Statt der Hauptfigur des Nicholas Branch, einem CIA-Archivar, der gewissermaßen den Leser selbst in DeLillos Klassiker darstellt, lässt Juan Gabriel Vásquez sein literarisches Alter Ego unter seinem Namen als Ich-Erzähler auftreten.
Ein Vexierspiel beginnt. Der Autor Vásquez lässt sein Roman-Ich (nachfolgend kurz: Vásquez), das viele biografische Details mit dem Autor teilt, auf Dr. Franciso Benavides treffen, einen renommierten kolumbianischen Chirurgen und Sammler mit dem Hang zum Speziellen. Bei einem Abendessen im Hause Benavides stellt der Arzt Vásquez einen Freund der Familie vor. Carlos Carballo entpuppt sich im Gespräch als Verschwörungstheoretiker, der hinter jedem Attentat oder Tod eines Prominenten einen Plan unsichtbarer Kräfte wittert. So mutmaßt Carballo, dass die Twin Towers am 9. September 2001 gesprengt worden seien. Der Mord an John F. Kennedy, die Todesfälle von Lady D. und Marilyn Monroe sind für ihn auch ungeklärt. Geradezu besessen ist er von der These, dass die Ermordung Jorge Eliécer Gaitáns nicht das Werk des Einzeltäters Juan Roa Sierra war. Von Vásquez erhofft er sich Informationen, schließlich war dessen Onkel seinerzeit in die Ermittlungen im Mordfall Gaitán eingebunden. Vásquez erkennt nun den wahren Grund für seine Einladung. Liefern kann er jedoch nicht. Es kommt zum Streit. Vásquez wirft Carballo ein Whiskyglas an den Kopf. Benavides setzt ihn wider Erwarten nicht vor die Tür, sondern zeigt ihm seine krude Sammlung von Erinnerungsstücken, darunter ein Teil der Wirbelsäule des ermordeten Gaitán, eingelegt in einem Weckglas. Vásquez ist von den aufbewahrten Memorabilien und den Theorien fasziniert, die sich daran knüpfen, fängt aber nicht Feuer. In der Folgezeit unternimmt Carballo trotz der kassierten blutigen Nase einen perfiden Versuch, Vásquez in seine Recherchen einzubinden. Vásquez erkennt die Täuschung. Jahre später, Vásquez ist mit seiner Familie aus Spanien nach Bogotá zurückgekehrt, beklagt Benavides den Diebstahl des Wirbels Gautáns und der Schädelkalotte Uribes. Vásquez versucht Carballo als Täter zu überführen und geht zum Schein auf dessen Vorschlag ein, ein Enthüllungsbuch über die wahren Drahtzieher des Mordes an Gaitán zu schreiben.
Carballo erstaunt Vásquez mit den von ihm zusammengetragenen Fakten. U.a. gibt er ihm Einsicht in die Schrift „Wer sind sie?“ von Marco Tulio Anzola, der seinerzeit im Fall Uribe Uribe im Auftrag der Familie des Mordopfers eigene Nachforschungen - mit beunruhigenden Ergebnissen - angestellt hat. Und dann spannt Carballo den großen Bogen zwischen den Attentaten auf Uribe Uribe und Gaitán, der nicht minder überraschend ist. Gibt es ein Muster, das sich wiederholt? Was hat der Vater von Carballo damit zu tun? Und wird Vásquez das Buch schreiben? Die letzte Frage scheint durch Vorlage des Romans "Die Gestalt der Ruinen" beantwortet zu sein. Aber entsprechen sein Inhalt und seine Quintessenz den Vorstellungen Carballos?
Der Autor Vásquez erzählt prall, spannend und trotz der Fülle der vermittelten Details sehr übersichtlich, sodass sich vor den Augen des Lesers ein kleinteiliges Puzzle zu einem wandausfüllenden Diptychon zusammensetzt. Die Bildhälften fallen asymmetrisch aus, da die Darstellung der Ermordung Rafael Uribe Uribes überbordend Raum beansprucht. Ein lässlicher Schönheitsfehler in der Konstruktion des Romans.
Vásquez verwebt geschickt Fakten und Fiktion, unterfüttert sie mit im Text abgedruckten Fotos, erweckt durch den Kunstgriff, sich selbst zum Helden seines Romans zu machen, den Anschein einer autobiografischen Erzählung. Er zeigt dadurch auf: die Wahrheit changiert durch Überlieferung zwischen Wahrsein und Wahrhabenwollen. Im Kleinen wie im Großen, ob Autobiografie oder Geschichtsschreibung, am Ende ist Wahrheit nichts anderes als ein durch Übereinkunft zur Wahrheit erhobenes Narrativ. Dies gilt umso mehr, je weiter die Geschehnisse zurückliegen. Auslassungen und Ausschmückungen eröffnen Räume, in die Verschwörungstheorien und ihre Lightversion, „die einfachen Wahrheiten“, wie Schlingpflanzen hineinkriechen können. Und wenn der gesellschaftliche Konsens und das Vertrauen in die politische Elite - aus welchen Gründen auch immer - schwindet, schwindet auch die Bereitschaft an dem gemeinsamen Narrativ festzuhalten. Dann ist sie da, die hohe Zeit der Verunsicherer, die Sicherheit versprechen; der Lügner, die endlich sagen wollen, was die Wahrheit ist; der Aufklärer, die mit Tatsachen so umgehen, als handele es sich um bloße Meinungen; der Heilsbringer, deren Grad ihrer narzisstischen Persönlichkeitsstörung sich erst nach ihrem Wirken im angerichteten Leid messen lässt.
Wir Menschen sind - frei nach Albert Camus - immer Opfer unserer Wahrheiten, ob gestern in Bogotá, heute in Chemnitz und morgen in Irgendwo.
Uns dies ins Bewusstsein zu rufen, hat sich Juan Gabriel Vásquez mit seinem Roman „Die Gestalt der Ruinen“ angelegen sein lassen. Wir erzählen uns Menschheitsgeschichte u.a. als Interpretation ausgegrabener und aufbewahrter Körperruinen, als Folge von Ereignissen, als Summe einer auslösenden Kausalität, anders formuliert: als Gestalt der Ruinen. Aber ist sie das wirklich? Oder setzt unsere individuelle Entscheidung, einem Narrativ zu folgen, die Ursache für Geschichte? Laden wir Ereignisse, indem wir sie in Bezug zueinander setzen, erst mit Sinn auf? Und was ist, wenn diese Ereignisse doch nur zufälligen Charakters und ihre Verknüpfung im Dienst einer Idee, Ideologie gewillkürt sind? Das bleiben und sind die existenziellen Fragen, die Juan Gabriel Vásquez aufwirft. Darüber nachzudenken, lohnt gerade jetzt.
Ein gutes Buch, ein wichtiges Buch, ein herausforderndes Buch. Es kommt zur rechten Zeit. Bei Licht besehen kommt es immer zur rechten Zeit. Denn irgendwo ist immer Kolumbien. Und irgendwo marschieren sie immer. Mal mit orangefarbenen Tüchern um den Hals, mal mit dauererigiertem Arm uswusf.