Ich habe den einzigen Roman des Mexikaners Juan Rulfo (1917-1986) in Deutsch (6. Auflage suhrkamp Taschenbuch) gelesen. Sein Roman „Pedro Paramo“, 1955 erstmals erschienen, ist keine einfache Kost. Realität und Traum vermengen sich zu einem verwirrenden Mosaik, surrealistische Elemente dominieren und die Erzähl- und Zeitebenen wechseln innerhalb weniger Seiten. Die Erzählung erfolgt überwiegend in wörtlicher Rede. Rulfos Roman ist kurz (ca. 160 Seiten), aber derartig vielschichtig, dass das Verstehen der literarischen Experimente und phantastischen Wendungen zur mühsamen Arbeit für den Leser wird. Die übermäßige Verschmelzung von scheinbarer Wirklichkeit und halluzinatorischen Elementen macht das Werk zu einem Wegbereiter des magischen Realismus, zugleich aber auch zu einem Roman, der eine gewisse Zeit des geduldigen Einlesens erfordert
Juan Rulfo
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
Alle Bücher von Juan Rulfo
Der Llano in Flammen
Pedro Páramo
Unter einem ferneren Himmel
Pedro Paramo
Pedro Paramo
Pedro Páramo
Pedro Paramo / Der Llano in Flammen
Neue Rezensionen zu Juan Rulfo
‚Nein, ich meine das Dorf. Es sieht so einsam aus, als sei es verlassen, als ob da niemand wohnte.‘ - ‚Das sieht nicht nur so aus, es ist so. Hier lebt niemand.‘ - ‚Und Pedro Páramo?‘ - ‚Pedro Páramo ist vor vielen Jahren gestorben.‘
‚Pedro Páramo‘ ist der einzige Roman des mexikanischen Autors Juan Rulfo, der als Wegbereiter des Magischen Realismus gilt. ‚Pedro Páramo‘ erschien in Mexiko bereits im Jahre 1955 und wurde 1958 erstmals von Mariana Frenk-Westheim ins Deutsche übersetzt.
Ich habe den Roman bereits vor mehr als 15 Jahren in der oben genannten Übersetzung gelesen, und ich weiß noch genau, dass ich ihn aufgrund eines Zitats von Gabriel García Márquez auf dem Umschlag gekauft habe:
‚Ich konnte nicht einschlafen, bevor ich das Buch nicht zum zweiten Mal gelesen hatte. Ich habe Rulfos Werk nun ganz wiedergelesen, und ich bin wieder das unschuldige Opfer meiner ersten Erschütterung geworden.‘
Nun habe ich ‚Pedro Páramo‘ in der Übersetzung von Dagmar Ploetz, deren großartige Neuübersetzung von García Márquez‘ ‚Hundert Jahre Einsamkeit‘ im Juni 2017 erschienen ist, als Hörbuch gehört, und ich bin nach wie vor von diesem magisch-realistischen Roman fasziniert und begeistert.
Rulfo erzählt in ‚Pedro Páramo‘ von Juan Preciado, der seiner Mutter Dolores Preciado auf dem Totenbett versprochen hat, sich auf den Weg nach Comala zu machen, um seinen Vater, den Großgrundbesitzer Pedro Páramo, zu suchen, der dort leben soll.
Juan macht sich auf den Weg in das von seiner Mutter als blühend und bevölkert beschriebene Comala, doch er findet nur ein heruntergekommenes, verlassenes Dorf, in dem er überall auf tote Menschen trifft, die ihm die Geschichte von Pedro Páramo und seinen Untaten erzählen.
Beim Lesen des Romans spürt man von der ersten Seite an eine gewisse Beklemmung, und die düstere Stimmung, die über Comala liegt, die Hoffnungslosigkeit und die unheimliche Szenerie im Dorf greifen auf den Leser über und versetzen ihn an diesen gespenstischen Ort, an dem Rulfo die Toten zum Leben erweckt und so die Grenzen zwischen den Toten und den Lebendigen verwischt.
Die Zeitsprünge durch die Vermischung der beiden Handlungsstränge (Juans Besuch im Dorf versus Comalas Vergangenheit als blühender Ort unter der Tyrannei Pedro Páramos) sind anfangs zwar etwas verwirrend, machen ‚Pedro Páramo‘ jedoch zu einer komplexen Geschichte und den Roman zu einem wahren Meisterwerk der lateinamerikanischen Literatur im Allgemeinen und des Magischen Realismus im Besonderen.
So stimmungsvoll ich die Lesung durch das eingespielte Glockenläuten und die insgesamt gelungene Interpretation durch Urs Widmer fand, würde ich eher das Buch als das Hörbuch empfehlen, denn der Schweizer Zungenschlag Widmers passt meiner Meinung nach überhaupt nicht zur Geschichte und zum Handlungsort Comala.
Als Juan Preciados Mutter stirbt, rät sie ihm, seinen Vater Pedro Páramo aufzusuchen und diesen um die lange ausstehende Unterstützung zu bitten. Er macht sich auf in das Dorf Comala, in dem sein Vater leben soll, doch statt einer blühenden Landschaft und einer prächtigen Hazienda findet Juan ein heruntergekommenes, verlassenes Geisterdorf vor, in dem die Seelen der Dorfbewohner fortleben. Gleichzeitig erfährt der Leser mehr über das Leben Pedro Páramos, welcher als Patron über das Dorf herrschte und seinen Bewohnern das Leben schwer machte.
Gabriel García Márquez schrieb in einem Artikel der Zeitschrift Araucaria de Chile über Rulfos Roman, dass dieser der erste nach Kafkas Die Verwandlung war, welcher in ihm große Gefühle geweckt habe. Márquez, der nach der Veröffentlichung von bereits vier Romanen in einer kreativen Flaute steckte, verschlang Pedro Páramo und konnte es in und auswendig.
Rulfos kurzes und einziges Buch erschien 1955, und obwohl er nebenher nur wenige Kurzgeschichten veröffentlichte, ließen sich viele lateinamerikanische Autoren von ihm inspirieren. Das merkt man auch, wenn man z.B. García Márquez liest. Rulfo scheint die lateinamerikanische Literatur sehr geprägt zu haben, was den Schreibstil betrifft. Gleichzeitig ist es auch eines der früheren Werke, die dem Magischen Realismus zugeordnet werden können. Je nach Interpretationsweise könnte man auch sagen, dass sich das Buch mit psychischer Krankheit befasst. Die Entscheidungsfreiheit des Lesers, ob sich die Ereignisse nun wirklich zutrugen oder sich alles nur in Juans Kopf abspielte, hat mir gefallen. Ich mag ambivalente Geschichten, die sich an der Grenze zwischen Realität und Traum/Wahnsinn bewegen.
Auch die Sprache des Romans ist großartig. Wenn man die einzelnen Sätze auskostet, stimmt es einen geradezu traurig, dass dieser Mann nur dieses eine Buch geschrieben hat. Passagen wie die folgende haben die Atmosphäre, die in Comala herrscht, greifbar gemacht:
Es fehlte noch lange bis zum Morgengrauen. Der Himmel war voller Sterne, dicker Sterne, aufgebläht von so viel Nacht. Der Mond war aufgetaucht und bald wieder verschwunden. Es war einer dieser traurigen Monde, die keiner anschaut, auf die keiner achtet. Er hatte eine Weile verzerrt am Himmel gestanden, kein Licht ausgestrahlt und sich dann hinter den Bergen versteckt.
Allgemein konnte ich mir dieses trostlose, verflucht scheinende Dorf, dass von negativen Emotionen beherrscht wird, sehr gut vorstellen. Doch so toll die Sprache auch sein mag – der Roman ist unglaublich verwirrend. Rulfo arbeitet mit einer Multiperspektivität, die für meinen Geschmack zu übertrieben ist. Ich habe gerne mehrere Haupt- und Nebencharaktere, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird. Dadurch bekommt man als Leser ja auch ein viel besseres und objektiveres Gesamtbild der Situation. Hier jedoch waren einfach zu viele Figuren, zu viele spanische Namen, die sich teils ähnlich waren, zu viele Menschen, die kurz erwähnt wurden. Sie haben zwar allesamt zur Story beigetragen und dazu, Pedro Páramo zu charakterisieren. Dennoch war mir oft nicht klar, aus wessen Sicht gerade erzählt wird, besonders, da die einzelnen Abschnitte manchmal erst sehr spät einen Namen preisgeben. Dazu kommt, dass nicht alles chronologisch erzählt wird, was normalerweise kein Problem für mich ist, bei dieser Dichte an Personen und Geschehnissen allerdings schon. Das war mir zu viel Rätselraten und Durcheinanderkommen, sodass es meine Freude am Lesen doch erheblich getrübt hat.
Sprachlich und atmosphärisch ist Juan Rulfos Pedro Páramo Spitzenklasse und man kann deutlich erkennen, dass andere lateinamerikanische Autoren ihre späteren Werke davon haben beeinflussen lassen. Die vielen Figuren, Ereignisse und zeitlichen Sprünge haben mich allerdings so verwirrt, dass ich mich gar nicht richtig darauf konzentrieren konnte, das Buch zu genießen. Im Nachhinein hat es mir besser gefallen als beim Lesen selbst. Es ist definitiv lesenswert, allerdings sollte man eine gewisse Bereitschaft mitbringen, sich auf eine ungewöhnliche, wenn nicht sogar schwierige Erzählweise einzulassen. Ich würde 3,75 Sterne vergeben.
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