Cover des Buches Zuhause in Fukushima (ISBN: 9783218009065)
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Rezension zu Zuhause in Fukushima von Judith Brandner

Furusato bedeutet Heimat

von Wortklauber vor 10 Jahren

Rezension

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Wortklaubervor 10 Jahren

Der 11. März 2011 war ein Tag, der für die Menschen aus der japanischen Region Fukushima alles veränderte. Erdbeben, Tsunami und Nuklearkatastrophe im Kraftwerk Daiichi – die Bilder gingen um die Welt. Es heißt, dass ca. 18.000 Tote zu beklagen waren. Es heißt, dass in der Folge mehr als 150.000 Menschen displaced sind. Keine Folge eines Krieges, sondern einer Nuklearkatastrophe, was die Menschen zu Nuklearflüchtlingen macht. Anderswo, das liegt in der Natur der Sache, mag man andere Zahlen finden. Aber Zahlen, und besonders große Zahlen, sagen nichts aus über Einzelschicksale.

Zum dritten Jahrestag der Katastrophe hat der Wiener Verlag Kremayr & Scheriau ein Buch der Journalistin und Japanologin Judith Brandner mit Porträts von Menschen herausgebracht, die unter dem Titel "Zuhause in Fukushima – Das Leben danach" vereint sind, illustriert mit Fotos von Katsuhiro Ichikawa. Es sind Porträts von Menschen, die mit der Region Fukushima verbunden sind. Sie haben ihre Heimat verloren, weil ihre Wohnorte zur Sperrzone erklärt worden sind, sie sind "freiwillig" fortgegangen oder sie sind geblieben.

Bis heute ist das Ausmaß der tatsächlich freigewordenen Strahlung unklar. Manch ein Bewohner der Region traut den Angaben über die momentanen Strahlungswerte nicht, hält sie für geschönt. Währenddessen laufen die Dekontaminationsarbeiten. Häuserfassaden werden abgewaschen, Erdreich abgetragen – davon zeugen nicht zuletzt die großen Plastikmüllsäcke auf Halden, am Wegesrand, sogar im privaten Garten. Aber nach jedem Regenguss sind die Strahlungswerte aufs Neue erhöht. Der Energiekonzern Tepco ist bemüht, die Gebiete wieder für bewohnbar erklären zu lassen; wer nach einer gesetzten Frist nicht zurückgekehrt ist, dem wird die bislang gewährte Entschädigung gestrichen. Die Regierung dekontaminiert und teilt die Zonen immer wieder neu ein, gibt evakuierte Gebiete wieder frei, erhöht Richtwerte.

Judith Brandner erzählt aber nicht nur vom "Leben danach". Um erahnen zu können, warum der eine geblieben und der andere fortgezogen ist, bedarf es eines genauen Blicks auf die porträtierten Menschen. Verallgemeinern lässt sich nichts – da gibt es den Biobauern, der bleibt, obwohl er weiß, dass er nichts mehr mit gutem Gewissen anpflanzen kann, genauso wie den Komponisten, der in der Region bleibt, der sich mit den Menschen verbunden fühlt, obwohl er nicht von dort stammt, und dessen Werk eine neue Richtung bekommen hat. Die Katastrophe hat viele Menschen entzweit, oft geht der Riss direkt durch Familien. Meistens sind es die Männer, die geblieben, während die Frauen mit den Kindern abgewandert sind. Und dann ist da auch noch das Altersheim, in dem die Bewohner nichts ahnen, und ein Badeort von längst verblichenem Glanz, in den man Bauern und Bäuerinnen einquartiert hat.

Judith Brandner erzählt von der Heimatverbundenheit des dort gebürtigen Menschenschlags, von den Sorgen um die Gräber der Vorfahren im Sperrgebiet. Oder besser, sie lässt die Betroffenen erzählen, und berichtet so von dem Verantwortungsbewusstsein, das viele Menschen empfinden, weil sie sich vor der Katastrophe nicht gegen Kernenergie ausgesprochen, die Ansiedlung des AKW unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sogar begrüßt haben, von Loyalität und von Ohnmacht. Manche Menschen dort, so erfährt man, fühlen sich alleingelassen, manche fürchten, sich „an das Ungewöhnliche zu gewöhnen“. An die Geigerzähler, die Trennungen, die Provisorien. Judith Brandner erzählt auch von der gewandelten inneren Einstellung von Betroffenen, die sich künftig mehr einmischen wollen – nicht selbstverständlich in einem Land, in dem man Minderheiten nicht sonderlich schätzt. All das vor dem Hintergrund der traurigen Gewissheit, dass nichts mehr so sein wird wie vor jenem 11. März 2011. Zitat Biobäuerin Sachiko Sato: „Das schlimmste ist, dass mit dem Super-GAU unser normales Leben verloren gegangen ist und wir es nicht mehr zurückbekommen.“

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