Man stelle sich vor, Carolin Kebekus (in der „far from ordinary“- Edition) und Hazel Brugger (Dada inspiriert) haben sich die Genre Chick-Lit und New Adult vorgeknöpft und eine Parodie darauf geschrieben – aber mit Meta-Ebene. Dann kommen Sie beim Lesen aus dem Lachen nicht mehr heraus. Ein Lachen, das im Halse steckenbleibt.
Worum geht’s? Vera und Peli machen Zürich unsicher. Sie werden beschuldigt, Autos, Drogen und Deko-Figuren aus Gärten geklaut, Menschen verprügelt und ein Feld angezündet zu haben. In den Vernehmungen macht Vera ausführlichste Angaben. Sie leugnet oder präsentiert haarsträubende Erklärungen, warum sie und Peli so handeln mussten.
Die Haupthandlung spielt im Jahre 2025. Seither ist die Welt in Auflösung. Menschen und Dinge verschwinden. 2098 werden u.a. die Vernehmungsprotokolle wiedergefunden. Nun soll eine Gruppe von Forschern des Instituts für Frühgeschichte / Sozialwissenschaften die Dokumente auswerten und herausfinden, ob die Geschehnisse aus 2025 der Beginn für das Phänomen sein könnten, dass Bahnhöfe, Tiere aus dem Zoo, Flughäfen etc. verschwinden und anderswo wiederauftauchen. Oder verschwunden bleiben.
Das ungelenke, aber um selbstvergewissernde Bedeutung ringende Fabulieren der Protagonistin Vera Savakis, das über die Nachahmung einer Reflektion nicht hinauskommt, sogar Binsenweisheiten entstellt; ihr sinnfreies Aufladen von selbstdefinierten Zeichen mit einem übergeordneten Sinn; das Durcheinandertal von nacherzählten Details, die Vera in einen alternativen Bezug zum ursprünglichen setzt – all das kann sich sogar mit Monty Python messen. Hier scheint ein Mensch nicht mehr „wichtig von unwichtig“ unterscheiden zu können, sondern sucht in allem Sinn und Zusammenhänge. Und das mit lädiertem Sprachvermögen. Zeitformen, Erzählperspektiven, Bilder – vieles knapp daneben bis ziemlich krass vorbei. Das so durchgezogen zu haben – Respekt an die Autorin.
Pröbchen? Bitte: „Noch etwas anderes stach uns ins Auge: Keine zwei Kräne zeigten in die gleiche Richtung. Vielmehr schienen sie in alle Richtungen zu deuten, die es gab. Das kommt höchstens alle tausend Jahre einmal vor, raunte Peli andächtig.“ Oder: „Dieser Park hat mir immer schon gefallen. Etwas Präriehaftes geht von ihm aus. Lange, wilde Treppenstufen, auf denen tagsüber Leute sitzen, […], führen hoch zur Universität Irchel, die in Form verschiedener Gebäude da herumsteht.“ Last but not least: „Aber gut oder schlecht – waren das nicht überwundene Maßstäbe? Schließlich wollten wir ja hinüber, weit hinüber, und eigentlich auch durch.“
Vera Savakis begreift die Wirklichkeit nicht (mehr). Sie kann sie jedenfalls nicht mit ihrer Sprache präzise abbilden. 1984 von George Orwell lässt grüßen. Nur, dass die Worte in „Wilde Manöver“ nicht kontingentiert werden, sondern als unendliches, sich selbst entwertendes Geschwätz daherkommen. Und mit dem Unterschied, dass Big Brother wir alle in der digitalen Gesellschaft sind. Die befindet sich mitten in einer kognitiven Apokalypse, wenn man der Analyse von Gérald Bronner vertrauen darf. Vera Savakis würde allerdings Bronners Erkenntnisse lediglich als Angebot zur Deutung verstehen, wenn sie sich vor lauter Zeichensuche überhaupt damit auseinandersetzte …
Man kann „Wilde Manöver“ als beißende Zeitkritik verstehen. Tabus gibt es nicht mehr. Regeln gelten nur für den, der daran glaubt. Die Wahrheit wurde geghostet. Sprachvermögen entwickelt sich zurück. Die Aufklärung hat sich vertschüssisiert. Rationelles Denken, wenn es überhaupt noch funktioniert, behindert jetzt die neuen Strukturen des digital gesteuerten Ichs und die Freiräume seiner Selbstentfaltung. Das hat auch was Trumpitisches (die fortgesetzte Lüge gerinnt zur Heldenwahrheit).
Man kann „wilde Manöver“ als Dystopie lesen. Die Wirklichkeit löst sich in der digitalen Welt auf. Und mit ihr die Wahrheit. Wenn die Menschen nur noch in ihr Smartphone glotzen und in ihrer Blase leben, dann kann der Bahnhof in Zürich auch demnächst im Indischen Ozean verortet sein. Und Menschen, die gelebt haben, werden digital ausgeixt, so als hätte es sie nie gegeben. Macht Putin doch gerade auch mit der Stalin-Ära und den Millionen Opfern der Diktatur, indem er u.a. die Organisation MEMORIAL verboten hat, die sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Verbrechen zu dokumentieren.
Man kann den Roman auch als Road Movie lesen mit Anarcho-Protagonistinnen in Till-Eulenspiegel-Tradition, die sich dem Mainstream-Weltverständnis entziehen; für die Wahrheit auch bloß eine Geschichte ist, die man glauben oder neu zusammensetzen kann. Sie tun alles, was ihnen in den Sinn kommt, sei es noch so sinnfrei oder in den Augen Dritter eine kriminelle Handlung. Legal, illegal - in solchen Kategorien denken sie nicht. Waren die Opfer doch einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Vera und Peli scheinen ihr ganzes Leben an jenem Ort verbracht zu haben, „weil die Zukunft nicht landen konnte.“ Aber jetzt machen sie einfach mal was, Hauptsache neu. Dem Ganzen kann man ja nachher einen Sinn geben, so Vera in der Vernehmung. Blöd nur, dass sie sich in der Wirklichkeit befinden, die nie im richtigen Augenblick aufhört, wie dann kurz mal als Erkenntnis aufblitzt, um dann im nächsten Wortschwall unterzugehen.
Es gibt viele Interpretationsfäden, die Judith Keller zum Weiterspinnen ausrollt. Ob ich jetzt den roten Faden gefunden habe, weiß ich nicht. Aber so ist das mit den Lesenden. Die lesen ein Buch einfach so, wie sie wollen. Ich eben so.