Judith M. Brown

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Jawaharlal Nehru - der Gründervater des modernen Indien

In den 1950er und frühen 1960er Jahren gehörte der indische Premierminister Jawaharlal Nehru (1889-1964) zu den bekanntesten Politikern der Welt. Heute hingegen ist Nehrus Name weitgehend in Vergessenheit geraten. Diese Tatsache spiegelt sich auch darin wieder, dass es nur sehr wenige Nehru-Biographien aus der Feder westlicher Historiker gibt. Das ist bedauerlich, denn Nehrus Leben und politisches Wirken besitzen eine historische Relevanz, die weit über den Rahmen der Geschichte Indiens hinausreicht. Nehru gehörte zu einer ganzen Generation asiatischer und afrikanischer Politiker, die ihr Leben dem Kampf gegen den Kolonialismus und dem Aufbau neuer unabhängiger Staaten widmeten. Bis heute werden viele der Staaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den europäischen Kolonialmächten in die Unabhängigkeit entlassen wurden, der sogenannten "Dritten Welt" zugerechnet oder unter dem Begriff "Entwicklungsländer" subsumiert. Darin schwingt die Auffassung mit, dass es diesen Staaten trotz jahrzehntelanger Anstrengungen nicht gelungen ist, Entwicklungsrückstände abzubauen und zum Westen aufzuschließen. Der Kolonialismus und seine (Langzeit-)Folgen, das Spannungsverhältnis zwischen Rückständigkeit und nachholender Modernisierung sind die beiden Leitmotive, die Judith Browns Nehru-Biographie beherrschen. Bis zu ihrer Emeritierung 2011 lehrte Brown Geschichte des Commonwealth an der Universität Oxford. Als Kennerin der Geschichte Indiens im 19. und 20. Jahrhundert war sie prädestiniert für die Aufgabe, eine wissenschaftlich fundierte Nehru-Biographie zu schreiben. Das vorliegende Buch erschien 2003. Es ist nicht zu verwechseln mit einer knapperen biographischen Skizze, die Brown 1999 in der bekannten Reihe "Profiles in Power" veröffentlichte.

Im Gegensatz zu früheren Autoren, seien sie aus Indien, seien sie aus dem Westen, konnte Brown auch jene Teile des Nehru-Nachlasses einsehen und auswerten, die aus Nehrus Amtszeit als Premierminister Indiens (1947-1964) stammen. Ohne diese Quellen ließe sich Nehrus Tätigkeit an der Spitze der indischen Regierung kaum angemessen aufarbeiten und darstellen. Die Jahre von der Unabhängigkeit Indiens (1947) bis zu Nehrus Tod nehmen in der Biographie fast genauso viel Raum ein wie Nehrus Leben vor 1947. Nehru gelangte erst mit fast 60 Jahren an die Schalthebel der Macht, zu einer Zeit, als er die besten Jahre seines Lebens schon hinter sich hatte. Brown betont immer wieder, wie sehr sich Nehru mit Arbeit überlastete, wie sehr er sich in seinen Ämtern aufrieb. Er war nicht nur Premierminister, sondern auch Außenminister. Angesichts der enormen Arbeitsbelastung ist es erstaunlich, dass Nehru überhaupt 17 Jahre lang als Regierungschef durchhielt. Selten hat sich ein Politiker derart für sein Land selbst ausgebeutet und verausgabt. Brown verschweigt nicht, dass Nehru länger an der Macht war, als es seinem Land gut tat. Nicht nur Nehru selbst hielt sich für unersetzlich; auch das politische Establishment Indiens konnte sich nicht vorstellen, dass der Gründervater aus Alters- oder gesundheitlichen Gründen freiwillig aus dem Amt scheiden könne. Je älter er wurde, desto weniger war Nehru den anspruchsvollen Aufgaben gewachsen, die er sich selbst gestellt hatte. Misserfolge, Enttäuschungen und Stagnation überschatteten seine letzten Regierungs- und Lebensjahre. Die euphorische Aufbruchstimmung aus der Zeit der Unabhängigkeit hatte sich verflüchtigt, und immer deutlicher zeigte sich, dass die allgemeine Entwicklung Indiens weit hinter den hochfliegenden Ambitionen des Modernisierers Nehru zurückblieb.

In den Teilen 1 bis 3 des Buches behandelt Brown Nehrus Leben und politische Laufbahn bis 1947. Der Kampf um die Befreiung Indiens von der britischen Kolonialherrschaft steht im Mittelpunkt dieser drei Teile. In den Teilen 4 und 5 schildert Brown Nehrus Wirken als Premierminister des nunmehr unabhängigen Staates Indien. Die Biographie beeindruckt durchweg mit profunder Sachkenntnis, Anschaulichkeit und Quellennähe. Browns Sprache ist klar und schnörkellos. Verständnisprobleme wird man als Leser auch dann nicht haben, wenn man sich zuvor noch nie mit Nehru und der Geschichte Indiens im 20. Jahrhundert beschäftigt hat. Brown zeichnet ein einfühlsames und psychologisch nachvollziehbares Porträt des Menschen und Staatsmannes Nehru. Sie hält mit ihrer Bewunderung für Nehru nicht hinter dem Berg, übt aber auch dort Kritik, wo es ihr notwendig erscheint. Als Mensch und Politiker, als Denker und Autor war Nehru eine respektgebietende Persönlichkeit. Seine Integrität und sein intellektueller Habitus trugen ihm in Ost und West gleichermaßen Anerkennung ein. Um Haupteslänge überragte er die meisten Politiker, die im Zuge der Entkolonialisierung zu Führern der Staaten in der Dritten Welt aufstiegen. Als Modernisierer mag Nehru viele seiner Ziele nicht erreicht haben. Eine Leistung, ein Verdienst kann man ihm jedoch nicht absprechen: Er führte das unabhängige Indien konsequent auf den Weg der parlamentarischen Demokratie und erlag nicht der Versuchung, autoritäre oder diktatorische Wege zu beschreiten, wie es in vielen anderen Entwicklungsländern geschah.

Browns Buch ist vor allem für jene Leser von Interesse, die sich mit der Problematik nachholender Modernisierung in nichtwestlichen Gesellschaften beschäftigen. Nehru kann als Prototyp eines Modernisierers gelten. Im Gegensatz zu vielen Mitstreitern in der indischen Nationalbewegung machte er sich schon frühzeitig Gedanken darüber, wie Indien nach Erreichen der Unabhängigkeit Anschluss an die Moderne finden könne. Freiheit und Unabhängigkeit waren aus seiner Sicht wertlos, wenn sie nicht mit sozioökonomischer Modernisierung verknüpft wurden. Brown kommt immer wieder auf das ambivalente Verhältnis zwischen Nehru und Gandhi zu sprechen. Die beiden Männer teilten viele Vorstellungen und Ziele, fanden aber in einem entscheidenden Punkt nicht zueinander. Gandhi stellte sich das Indien der Zukunft als ein Land idyllischer Agrarkommunen vor, in denen traditionelle indische Werte gepflegt wurden. Diese Vision hielt Nehru für geradezu gefährlich, weil sie auf eine Abkopplung von der modernen Welt und eine Zementierung bestehender sozioökonomischer Verhältnisse hinausgelaufen wäre. Genau das wollte Nehru aber nicht. Seine Zukunftspläne sahen schon in den 1920er und 1930er Jahre anders aus: Das unabhängige Indien sollte ein säkularer Staat sein und sich eine umfassende Modernisierung auf die Fahnen schreiben. Unter Modernisierung verstand Nehru Industrialisierung, Alphabetisierung, Frauenemanzipation, die Lösung der Landfrage, die Überwindung archaischer Rechtsnormen und Sozialstrukturen (Kastensystem, Diskriminierung der sogenannten Unberührbaren). Nehru stand der traditionellen indischen Kultur keineswegs verächtlich oder mit Hass gegenüber. Er gelangte aber schon früh zu der Einsicht, dass Indien bestimmte Errungenschaften der westlichen Moderne übernehmen müsse, wenn es als unabhängiger Staat auf Dauer überleben wollte.

Brown analysiert, wie Nehru seine Modernisierungspläne entwickelte und welche historischen Vorbilder ihn beeinflussten (z.B. die Sowjetunion). Sie schildert, wie Nehru als Regierungschef versuchte, sein Programm einer umfassenden Modernisierung zu verwirklichen. Für den alternden Premierminister war es eine bittere Erkenntnis, dass er viele seiner Ziele gar nicht oder nur zum Teil erreicht hatte. Intensiv widmet sich Brown der Frage, warum dem Modernisierer Nehru so wenige Erfolge und so viele Misserfolge beschieden waren. Nehru besaß zwar eine dominante Stellung im politischen System Indiens, aber seine Gestaltungsspielräume waren letztlich begrenzt. Er war kein Despot oder Diktator, hielt sich vielmehr skrupulös an die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie. Viele Probleme bei der Modernisierung Indiens waren auf die Grundsatzentscheidung zurückzuführen, dass Indien den demokratischen Weg beschreiten sollte. Der Fortschritt sollte nicht mit Zwang, mit Gewalt, mit Repression herbeigeführt werden wie in anderen Fällen nachholender Modernisierung. Viele Faktoren erklären Nehrus mäßige Erfolge als Modernisierer: Die Bevölkerung Indiens wuchs schneller als die Wirtschaftskraft des Landes, so dass im Kampf gegen Armut und Analphabetentum kein Durchbruch erzielt wurde. Der bundesstaatliche Aufbau Indiens erlaubte der Zentralregierung kein straffes "Durchregieren". Staatsapparat und Verwaltung waren träge und schwerfällig. In Nehrus eigener Partei, der Kongress-Partei (Indian National Congress), fanden die ehrgeizigen Pläne des Premierministers nur wenig Anklang und Unterstützung. Die Partei war daher kein brauchbares Instrument im Kampf um die Modernisierung des Landes. Da Kontroll- und Zwangsmittel fehlten, wurden Gesetze über die Emanzipation der Frauen und der Unberührbaren einfach ignoriert. Alte Sozialstrukturen und angestammte kulturelle Praktiken bestanden fort. Es fehlte an Geld für eine Industrialisierung auf breiter Front. Die Landreform scheiterte am Widerstand der Grundbesitzer.

Schon in den 1960er und 1970er Jahren wurde Indien von westlichen Politikwissenschaftlern als Beleg für die These angeführt, dass nachholende Modernisierung nur auf der Grundlage eines autoritären oder gar diktatorischen politischen Systems gelingen könne. Brown schließt sich dieser Position nicht explizit an, macht aber deutlich, dass Nehrus Versuch einer sozioökonomischen Modernisierung auf demokratischer Grundlage nur zu Teilerfolgen führte. Indien vollzog unter Nehru keinen großen Entwicklungssprung, auch nicht in den Jahrzehnten nach seinem Tod, auch nicht unter der langjährigen Herrschaft seiner Tochter Indira Gandhi (1966-1977, 1980-1984). Aus westlicher Sicht ist das heutige Indien allenfalls ein "Schwellenland". Das darf aber nicht von Nehrus großen historischen Leistungen ablenken. Auch ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod muss Nehru zu den bedeutendsten Staatsmännern des 20. Jahrhunderts gezählt werden. Judith Brown zeigt Nehru vor dem Hintergrund einer Zeit, in der nicht nur Indien, sondern die ganze Welt rasante Veränderungen erlebte. Als Nehru geboren wurde, schien das britische Kolonialreich unerschütterlich zu sein. Als er starb, war das Empire auf kümmerliche Reste zusammengeschrumpft. Nehru gehörte zu den herausragenden Akteuren eines Prozesses von welthistorischer Bedeutung, der Entkolonialisierung. Sein Leben und sein politisches Wirken verdienen daher auch heute noch unsere Aufmerksamkeit. Es ist sehr schade, dass Judith Browns exzellente - und mit knapp 350 Textseiten angenehm kompakte - Biographie nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Das Buch hat viele Leser verdient, sei es im englischsprachigen Raum, sei es anderswo. 

(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im November 2015 bei Amazon gepostet)

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