Cover des Buches Dinge, die wir heute sagten (ISBN: 9783423247948)
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Rezension zu Dinge, die wir heute sagten von Judith Zander

Rezension zu "Dinge, die wir heute sagten" von Judith Zander

von yoko vor 13 Jahren

Rezension

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yokovor 13 Jahren
Plötzlich stehst du da mit deinem schweren Kopf. Halb verdreht kommt er dir vor. Du kannst nicht mehr denken, stattdessen nur staunen und vorsichtig mit den Augen blinzeln. However. Aus dem Nichts taucht dieses Wort auf und schubst dich an. Es schlängelt sich durch deinen Geist, geschmeidig wie eine Katze raubt es dir deine letzten müden Gedanken. However, sagst du staunend immer wieder und steckst mittendrin im Zanderschen Wortkarussell. Judith Zander hat dir das Wort gleich auf der ersten Seiten in ihrem Debüt „Dinge, die wir heute sagten“ auf die Augen gelegt und mir zunächst in die Ohren, denn beim dtv Podcast habe ich es zuerst gehört und konnte mich dem Sog nicht mehr entziehen. Die junge Autorin erzählt in ihrem Roman die Geschichten der Menschen in einem kleinen Dorf namens Bresekow in Vorpommern. Anna Hanske ist gestorben. Nun kehrt ihre Tochter, Ingrid, mit Mann und Sohn zur Beerdigung in die alte Heimat zurück, aus der sie damals geflüchtet ist. Damit scheucht sie alle auf, vor allem die Geschichten von damals, die in den Köpfen der Bewohner stecken. Es scheint als platze eine Blase und alle fangen an zu erzählen. Wie die beiden jungen Küken, Romy und Ella. Erst durch Ingrids Sohn, Paul, freunden sie sich an und krabbeln aus ihren Schneckenhäusern, in denen sie sich bis dahin häuslich eingegraben hatten. Während die Mädchen wie zwei schillernde Schmetterlinge den Jungen aus der Fremde umschwärmen, kommen sie sich näher. Die eine lädt die andere in die eigene Welt ein. So trinkt Ella zum ersten Mal bei Romy „Öll-gräi“ und findet sogar: „Schmeckt gut.“ Oder die pensionierte Köchin Maria. Sie erinnert sich an die Kriegszeit mit all seinen Entbehrungen, den Männern, die an die Front mussten und an ihre Freundin, Anna, die sie nicht verstanden hat. Komische Dinge hat sie damals zur anstehenden Hochzeit gesagt und auch so gemeint. Weil es für alles eine mehr oder weniger gute Begründung gibt, glaubt Maria: „Aber ich glaub, du warst da wohl bloß n bisschen neidisch, was, Anna, dass du mir das nicht gegönnt hast, das will ich ja nu nich sagen, aber bisschen neidisch warst du.“ Und so hockst du in etlichen Bresekower Köpfen, lauschst den Monologen und den Dialogen. Einige schmerzen, andere berühren und wieder andere belustigen. Plattes trifft auf Tiefes. Angst wird durch Mut zu Nichte gemacht. Sehnsucht streift den Alltag. Du liest dich nicht durch eine Geschichte. Viel mehr entdeckst du viele einzelne Begebenheiten, die das große Ganze ergeben. Und überall dem kreisen die Beatles, ein Relikt aus einer fast vergessenen Zeit. Wie kleine Wegweiser leuchten die Liedzeilen in übersetzter Form auf und lassen dich unweigerlich mitsingen oder einfach nur innehalten und staunend den Kopf schwingen. Judith Zander hat es mir nicht leicht gemacht. Wie eine harte Nuss hat sie sich präsentiert. Sie passte nicht in meinen Nussknacker, so dass ich sie selbst knacken durfte. Gott sei Dank hat sie Erbarmen mit ihren Lesern und beginnt ganz leicht. Die einzelnen Personen sprechen anfangs in kleinen Häppchen und man hangelt sich von Namen zu Namen, voller Neugier, sucht man das, was sich wohl dahinter verbirgt. Je weiter man in den Roman hineinsteigt, um so größer wird der Raum der Protagonisten und doch blieb mir manchmal der Atem im Hals stecken. Ich musste zurückkehren und die eine oder andere Stelle nochmal lesen. Flattersatz ist es genauso ergangen. Er rät in seiner Rezension dazu: „Das ist eine ganze Menge an Personal, das Zander uns Lesern da zumutet und den öfter zu lesenden Rat, mit Zettel und Bleistift im Anschlag zu lesen, kann ich nur unterstützen, weil man sonst wirklich den Überblick verliert.“ Judith Zander fordert ihre Leser. Ich spüre ihr Lächeln im Gesicht, denn sie hat sich einiges gedacht, als sie das eindrucksvolle Buch geschrieben hat. Die Autorin ist dabei sprachgewaltig vorgegangen und ich habe zu Beginn vom Zanderschen Wortkarussell gesprochen. Zurecht! Sie hat für jeden Protagonisten die eigene Sprache parat: Plattdütsch, lodderich, vorpommerisch – alles ist dabei. Unglaublich. Schwindelanfälle befallen dich kurzweilig. Die Augen fahren nicht selten über eine Straße mit Kopfsteinpflaster. Und wenn du denkst, du kannst nicht mehr, startet der Kopf erst recht durch. Dieses Buch ist ein Exot, es hat ein besonderes Eigenleben, was ich selten erlebt habe. Es juckt, es kratzt, aber es streichelt auch, genau dann, wenn du es am wenigsten erwartest. Während ich las, wurde ich immer wieder durch besondere Sätze überrascht: „Der Mensch ist komisch. Man macht nie das, was man will. Sondern immer nur das, was man kennt. In- und auswendig. Bloß sich selbst kennt man nicht.“ Sonjas Gedanken spiegeln das Leben der Menschen in Bresekow wunderbar wider. Sie schmoren alle in ihrer eigenen Suppe, sind gefangen im Netz des Lebens und wollen eigentlich raus. Vielleicht unendlich sein wie das Meer: „Wie auch immer. However. Was für ein Wort. Es ist großzügig, niemand hier kennt es, aber es klingt wie die Wellen, wenn sie gemächlich sich dem Strand überlassen, die ganze Ostsee singt beständig however, however. Es klingt beinah wie ein Name.“ Und das ist er, der Roman. Ein Name mit seinen eigenen Buchstaben, die noch lange im Kopf nachhallen und dir jede Müdigkeit rauben werden. However.
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