Cover des Buches Wenn ich dich nicht erfunden hätte (ISBN: B01M6B53T6)
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Rezension zu Wenn ich dich nicht erfunden hätte von Julia Dibbern

​ Harter Tobak, anders als man erwartet, aber sehr empfehlenswert

von LaLecture vor 7 Jahren

Kurzmeinung: ​ Dieses Buch macht wütend, nimmt mit und ist anders - aber sehr empfehlenswert!

Rezension

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LaLecturevor 7 Jahren

Inhalt

Leo ist 18 und gerade von zuhause ausgezogen, nach Hamburg, fürs Studium. Doch mit ihrer gemieteten Wohnung läuft alles schief und plötzlich findet sie sich in einer neuen Wohnung wieder, bei Loris, der ihr so seltsam vertraut vorkommt. Leo fühlt sich zu Loris hingezogen, doch er versteckt etwas vor ihr: die Tatsache, dass er ihr nicht guttun würde.


Meinung

Es ist verdammt schwer, "Wenn ich dich nicht erfunden hätte" zu bewerten, beschreiben oder zu erklären, wieso es so empfehlenswert ist. Und gleichzeitig möchte ich genau das unbedingt schaffen, damit dieses Buch nicht untergeht in den vielen anderen Jugendbüchern, denen es auf den ersten Blick vermeintlich ähnelt. Denn das hätte es nicht verdient, auch wenn ich es nicht perfekt fand.

Der Roman beginnt wie viele andere Jugendbücher auch: mit dem netten Mädchen von nebenan als Protagonistin, die mit ihrem neuen Leben etwas überfordert ist, und dem geheimnisvollen Bad Boy als Retter, zu dem sie sich sofort hingezogen fühlt.
Doch ab da ist dann auch schon alles anders, als ich es von anderen Jugendbüchern kannte.

Das fängt schon damit an, dass die beiden Hauptfiguren, insbesondere Loris, unberechenbar sind.
Man hält Leo erst für ein schüchternes Mauerblümchen, doch dann entpuppt sie sich als erstaunlich schlagfertig und willensstark, was in Kombination mit dem charismatischen Loris zum Teil zu äußerst unterhaltsamen Dialogen führt. Obwohl Loris selbst sehr genau weiß, was er will, schafft sie es oft, sich ihm entgegenzustellen und seinen Spielchen nicht nachzugeben.
Gleichzeitig hat sie aber auch extrem schwache Momente, in denen sie Loris plötzlich hilflos ausgeliefert zu sein scheint und man sie einfach nur schütteln und anschreien möchte, weil sie gefühlt alles mit sich machen lässt - was andererseits aber auch realistisch ist, denn frisch verliebte Menschen tun oft (unbewusst) alles, um der anderen Person zu gefallen und ihr nahe zu sein.
Diese beiden Seiten von Leo passten für mich oft jedoch nicht wirklich zusammen.
Generell konnte ich sie als Figur schwer einschätzen und bin mir auch einige Tage nach dem Lesen nicht sicher, ob sie authentisch oder inkonsequent entwickelt ist. Zum Beispiel passte die Tatsache, dass sie jahrelang für denselben Typen geschwärmt hat, ohne ihn anzusprechen, für mich nicht zu ihrem plötzlich so offenen Verhalten Loris gegenüber.

Loris ist da nicht weniger undurchschaubar und bleibt durch viele Andeutungen über seine "dunklen Seiten" und Geheimnisse anfangs noch recht undurchsichtig.
Durch die Kapitel aus seiner Sicht erfährt man zwar von seinem "weichen Kern", der konfliktreichen Beziehung zu seinen Eltern, der Tatsache, dass es ihm oft sehr schlecht geht und findet heraus, dass er Leo mag.
Doch oft ist Loris auch einfach nur - auf gut Deutsch - ein Arschloch. Er provoziert, er manipuliert, er akzeptiert kein "Nein" und nimmt sich, was er will, wann er will, und lässt es genauso schnell wieder fallen, wenn es ihm nicht mehr passt. Gleichzeitig sind ihm die Bedürfnisse anderer Menschen scheinbar völlig egal, selbst die von Menschen, denen er etwas bedeutet. Bezeichnend für ihn sind zum Beispiel Szenen wie diese:
"Lass das!" Leo drückte ihn weg.
"Warum? Ich will das."

Er war mir das ganze Buch hindurch durchweg unsympathisch, vor allem, weil er Leo größtenteils nur als sexuelles Objekt zu sehen scheint; ein Mädchen, mit der er gerne spielt, die aber für andere Dinge wieder fallenlassen kann, wenn es ihm passt.
Das machte es mir schwer, diesen Loris mit den wenigen Dingen, die man über seine verletzlichen Seiten erfährt, zusammenzubringen, und ich hätte mir noch mehr Informationen darüber gewünscht, was ihn sich wann wie ein Arschloch verhalten lässt, obwohl er sicher nicht als eins geboren ist. So kam er mir oft etwas zu einseitig vor und wies eine seltsame Mischung aus Emotionalität und Oberflächlichkeit auf, deren Übergänge für mich nicht verständlich waren. Ich hätte mit entweder mehr oder keine Kapitel aus seiner Perspektive gewünscht.

Ein besonderer Aspekt dieses Buches, der im Original-Klappentext Erwähnung findet, ist die Tatsache, dass Loris den Hauptfiguren aus Leos Geschichten extrem ähnelt, was einer der Gründe ist, wieso sie sich so schnell zu ihm hingezogen fühlt. Dieses Element und auch die Erklärung dafür fand ich sehr kreativ, aber nicht hundertprozentig ausgereift umgesetzt, weil man sich lange nicht sicher ist, ob es sich um ein Fantasy-Element handelt und was es mit der restlichen Geschichte zu tun hat.

So unberechenbar wie die beiden Hauptfiguren ist auch ihre "Beziehung", auch wenn man diese nicht als Beziehung im herkömmlichen Jugendbuch-Sinne sehen kann.
Während Loris' Faszination für Leo in meinen Augen schwach bis gar nicht erklärt wurde, kann man Leos Interesse an ihm trotz seiner etlichen unsympathischen Eigenschaften gut nachvollziehen. Loris versprüht den typischen Bad Boy-Charme, aber auf eine vielschichtigere Weise als die 08/15 Bad Boys in anderen Jugendbüchern. Man versteht schnell, wie Leo auf seine manipulative reinfallen kann.
Ein Kompliment muss ich der Autorin auch für die erotischen Szenen machen, die die körperliche Anziehung zwischen den beiden beschreiben. Obwohl sie niemals explizit sind, ist das Knistern zwischen den beiden für die Leser*innen deutlich spürbar.

Teilweise entwickelte sich die Beziehung der beiden in meinen Augen aber auch viel zu schnell und dadurch unverständlich, schon angefangen bei dem etwas überstürzten und unrealistischen Einzug. Während ich dann die körperliche Anziehung zumindest von Leos Seite her durchaus nachvollziehen konnte, blieb für mich oft unklar, was die beiden (vor allem sie an ihm) charakterlich aneinander fanden. Zudem kam mir Leo, die eigentlich recht klug ist, oft unfassbar naiv vor, wenn sie bei einem Mann wie Loris so schnell denkt, er sei ihr Freund, obwohl sie nie darüber gesprochen haben. Auch das Wort "Liebe" nimmt sie viel zu schnell in den Mund.
Erfrischend fand ich dagegen, wie schnell es zwischen den beiden körperlich wird. Es passte für mich zwar nicht zu der eher romantisch veranlagten Leo, war für ein Jugendbuch aber mal eine ungewöhnliche Abwechslung.

Aufgrund der so widersprüchlichen und komplexen Beziehung der beiden war "Wenn ich dich nicht erfunden hätte" für mich oft sehr anstrengend zu lesen, was jedoch auch ein Kompliment für Julia Dibberns Talent als Autorin ist.
Mit Leo zusammen fühlte ich mich zu Loris hingezogen und obwohl ich genau wie sie rational wusste, wenn er unverzeihliche Dinge getan hatte, wünschte ich mir trotzdem immer wieder, er würde sich ändern und die beiden würden zu einander finden, genau wie Leo ihm einerseits sagt, er sei ein Arschloch, und trotzdem wieder zu ihm zurückkommt.
Gleichzeitig machte es mich extrem wütend, wieviel Leo mit sich machen lässt, wie selten sie Probleme anspricht und wie leicht sie sich mit Floskeln abspeisen lässt, selbst wenn es um sehr ernste Themen geht.
Dadurch nimmt dieser Roman in jedem Fall sehr mit und wird zu einer emotionalen Achterbahnfahrt.

Zusätzlich zu der ungesunden Beziehung der beiden kommt in der zweiten Hälfte des Buches noch ein sehr wichtiges, ernstes Thema hinzu, das hier von einer ungewöhnlichen und sehr interessanten Seite beleuchtet wird. Obwohl ich mangels Erfahrung nicht beurteilen kann, wie authentisch es dargestellt wurde, faszinierte mich die Thematik und die Art, wie sie behandelt wurde, ungemein.
Da ich jedoch nicht zu viel verraten will, kann ich an dieser Stelle nicht genauer darauf eingehen.

Der Clou an "Wenn ich dich nicht erfunden hätte", der das Buch so besonders macht, ist der, dass es nicht wie leider viele andere Jugendbücher mit frauenverachtendem Touch das Bad Boy-Gehabe und die manipulativen und selbstsüchtigen Seiten der männlichen Hauptfigur romantisiert. Zwar zeigt der Roman die oberflächliche Anziehungskraft solcher Charaktere auf und macht verständlich, wieso viele Frauen auf solche Männer reinfallen und sie "retten" wollen, verdeutlicht aber auch, was für einen Schaden eine so toxische Beziehung anrichten kann und wie wichtig es ist, rechtzeitig die Reißleine zu ziehen. Eine solche Botschaft würde ich mir von viel mehr Jugendbüchern mit ähnlichen Figuren wünschen.
In diesem Zusammenhang ging mir eine sehr wichtige Entwicklung am Ende leider viel zu schnell und ich konnte nicht nachvollziehen, was genau die betreffende Figur zu dieser Entscheidung und die andere zu ihrer Reaktion darauf gebracht hat.

Ein kurzes Wort möchte ich noch zum Schreibstil verlieren, an den ich mich erstmal gewöhnen musste, da er auf mich sehr gehetzt und abgehackt wirkte, mit schnellen und abrupten Szenenwechseln. Durch den Sog der Geschichte tritt das allerdings schnell in den Hintergrund, ebenso wie die Tatsache, dass die meisten Nebenfiguren auf mich eher blass wirkten.


Fazit

"Wenn ich dich nicht erfunden hätte" ist ein sehr ungewöhnliches, bewegendes Buch mit einem ernsten Thema, das ich so bisher noch in keinem Jugendbuch behandelt gesehen habe. Die Thematik und insbesondere die Botschaft sind sehr wichtig und so anders als alles, was ich bisher gelesen habe, dass ich das Buch jedem Menschen, der auch gerne mal Jugendbücher mit härteren Tobak liest, ans Herz legen kann.
Da mir die Persönlichkeiten der Figuren und die Motive für ihre Handlungen nicht immer ganz einleuchteten, kann ich trotzdem nur 4 Sterne vergeben.
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