Manchmal hat man alles, was man sich je gewünscht hat, und ist trotzdem nicht glücklich. Yvonne führt mit Jonas eine harmonische Ehe, hat mit John und Mika zwei bezaubernde Söhne und mit ihrem Job als Lehrerin einen erfüllenden Beruf. Alles zieht seine festen, geregelten Bahnen – und genau das ist das Problem. Yvonne fühlt sich gefangen im Alltag, eingeengt von der Entscheidung für eben dieses Leben, festgefahren in ihrem Tun, ihrem Handeln, ihren zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie träumt vom Ausbrechen – und ist selbst am meisten überrascht, als sie es wirklich tut. Mit einem Seitensprung entzieht sie ihrem bisherigen Leben jegliche Grundlage und stürzt auch ihren Mann und ihre Kinder in die Ungewissheit. Kann man nach einem solchen Vertrauensbruch zurückkehren? Wie begegnet man sich neu, wenn das Alte zwischen einem steht? Bedeutet einander lieben auch einander zu besitzen? Welche Formen von Familie kann es geben? Und darf der einzelne radikal das gemeinsame Lebenskonzept in Frage stellen, nur um das eigene Glück zu finden?
Ich bin mir sicher, dass ich im Grunde von nichts eine wirkliche Ahnung hatte. Aber es hat sich nach mehr angefühlt...weil ich mich in jede Richtung bewegen konnte. Weil ich unfertig war. Jetzt gibt es eine fertige Version von mir. Eine, die ich sein sollte, bleiben muss. Angekommen. Wiedererkennbar. Eingefroren. (S. 37)
Julia Jessen erzählt in ihrem zweiten Roman Die Architektur des Knotens die Geschichte einer Frau, für die es zum Glücklichsein nicht mehr reicht, dass doch „eigentlich alles perfekt ist“. Im Gegenteil: Yvonne leidet so sehr an der Sicherheit des Bekannten, am Vertrautem des Alltags, dass sie bereit ist, ihr Leben (und das ihrer Familie) durch eine radikale Grenzüberschreitung zu zerstören. Sie ist egoistisch, leichtsinnig, gierig – und doch nur eine normale Frau, die lediglich das in die Tat umsetzt, was einige nur im Stillen denken. Denn Yvonnes Leben ist einem nicht fremd: eine Ehe, die in die Jahre gekommen ist, ein Miteinander zwischen Haushalt, Kinderbetreuung, beruflichen und sozialen Verpflichtungen und über allem der nagende Zweifel, ob das wirklich alles ist – und ob man überhaupt das Recht hat, mehr zu fordern. Julia Jessens Figur mag einem nicht sympathisch sein, ihre mangelnde Entschlossenheit und ihr rücksichtsloser Selbstfindungstrip werden einen erzürnen, ihr Selbstmitleid einen ermüden – doch ihr realistischer und authentischer Kern ist nicht zu leugnen: In uns allen sitzt vermutlich eine Yvonne, viele werden sie unterdrücken können, einige werden sie kategorisch ausleben. Julia Jessen zeichnet nach, was passiert, wenn man den eigenen Wünschen nachgeht und sich damit gegen alle gesellschaftlichen Konventionen stellt.
Denn obwohl Yvonnes Verhalten eigentlich nur sie, ihren Mann und ihre Kinder betrifft, ja absolute Privatsache ist, mischen natürlich schnell auch Unbeteiligte mit: die Schwiegermutter, die beste Freundin, die Freunde des Mannes, die Arbeitskollegen. Sie alle haben eine Meinung, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: So etwas macht frau nicht, so etwas macht vor allem eine Mutter nicht! Es sind diese Vorwürfe – die Yvonne sich auch selber macht – und diese klassischen Vorstellungen von Ehefraudasein und Mutterschaft, die es ihr (und auch Jonas) schwer machen, alternative Modelle in Betracht zu ziehen. Die Diskussion darüber, das Austarieren anderer Lebenswege, die zwar nicht den Wünschen der anderen, dafür aber den eigenen entspricht, macht Die Architektur des Knotens zu einem modernen, aktuellen Roman, der wichtige Fragen zum Ehe- und Familienmodell stellt, ohne fertige Antworten vorzugeben.
Dies alles mag radikal klingen, doch schon nach dem Lesen der ersten Seiten wird einem bewusst, dass sich Julia Jessen dem Thema zwar schonungslos, aber auch behutsam nähert. In einer herausragenden Sprache, ohne Tabus und Beschränkungen, lässt sie den Leser tief in Yvonnes Gedanken- und Gefühlswelt blicken und schafft es so, den taumelnden, suchenden Zustand der Protagonistin perfekt zu übermitteln. Indem sie Yvonnes Schritte im Alltag verfolgt und ihre Gedanken ungefiltert für die Leser verschriftlicht, erzeugt sie einen eigentümlichen Sog, einen Leserausch, der einem mehr als einmal schwindelig zurücklässt. Denn Yvonnes Gedankenkarussell dreht sich um die immer gleichen Fragen, ihre Sätze sind ausufernd und kompliziert in dem Versuch, ihre Empfindungen sprachlich zu erfassen, nicht immer versteht man sie – oder besser: will man sie verstehen. Yvonne strengt an, ermüdet, deprimiert – nicht nur mit ihrem Tun, sondern auch wie sie darüber spricht. Die Architektur des Knotens ist daher auch stilistisch gesehen keine nette Lektüre, kein Buch, das es einem einfach macht, sondern, im Gegenteil, das fordert, anstrengt und mehr als einmal unbequem ist.
Aber geht es nicht bei guter Gegenwartsliteratur gerade darum? Den Finger in die Wunde zu legen, eine Meinung einzufordern, sich dem Gelesenen zu stellen, auch wenn es nicht der eigenen Komfortzone entspricht? Für mich kann ich diese Fragen eindeutig mit Ja beantworten und deswegen bewerte ich Die Architektur des Knotens – auch wenn die Lektüre über viele Seiten ein Kampf war – mit überzeugten 5 Sternen! Eine Empfehlung für alle, die bereit sind, differenzierter und vorurteilsfreier über Familie, Liebe und Partnerschaft zu lesen - und das auf hohem literarischen Niveau.