Der autofiktionale Roman "Das Vorkommnis" von Julia Schoch handelt von einer Schriftstellerin, die bei einer ihrer Lesungen auf eine Frau trifft, die behauptet ihre Halbschwester zu sein, also den gleichen Vater zu haben. Dieses Vorkommnis - ein Eindringen in das feste Familiengefüge - beschäftigt sie lange Zeit. So bilden die Gedanken über die Halbschwester inhaltlich den Hauptteil des schmalen Buches, Schoch versetzt sich in ihre Perspektive, wie lange hatte sie das Geheimnis mit sich herumgetragen und vesucht den gemeinsamen Vater zu kontaktieren?
Im Mittelteil, in dem die Ich-Erzählerin ihren mehrmonatigen Arbeitsaufenthalt in den USA beschreibt, das Leben dort mit ihrer Mutter und den beiden Kindern im Studentenwohnheim und das Nachdenken über die Begegnung mit der neuen Schwester, nimmt die Spannung in meinen Augen etwas ab.
Wie schon bei Knausgård und bei Ernaux wundere ich mich über die detaillierten Beschreibungen des Alltags, des Alltäglichen, des Banalen, z. B. welchen Guss, die von ihr gekauften Donuts haben.
Schoch selbst gibt die Antwort, so schreibt sie:
„Ich erwähne diese alltäglichen Verrichtungen, weil die meisten überraschenden Vorfälle in unserem Leben gleichsam nebenbei passieren. Wir setzen nicht aus. Wir halten nicht inne. [...] Wir bauen, was uns überrascht hat, in unser gewohntes Leben ein. Wir gehen unserer Arbeit nach. Wir funktionieren."
Vielleicht ist das ein wichtiger Punkt des autofiktionalen Schreibens?
Gut gefallen haben mir auch die Reflexionen der Ich-Erzählerin über ihr Schreiben. Wann, wo, wie es geschieht und warum, z.B die Stelle über das Notizbuch, das sie während des USA-Aufenthalts geführt hat und ihre Gedanken zum Schreiben als Verarbeitung von Erinnerungen:
„Aber selbst wenn man es schafft, wenn man die passenden Worte findet, ist das Schreiben eine Art Verdrängung, immer. Da es die Dinge in einem neuen Licht erscheinen lässt. Man lebt fortan mit einer neuen Version seiner selbst (S. 164)."
Ich würde gar nicht sagen in "neuem Licht", sondern in anderem Licht. Durch das Schreiben fällt es leichter eine andere Perspektive einzunehmen und die Dinge mit anderen Augen zu betrachten, es erweitert im wahrsten Sinne den Horizont.
"Das Vorkommnis" ist Band 1 der Triologie "Die Biographie einer Frau", sicherlich werde ich auch den im Frühjahr erscheinenden zweiten Teil "Das Liebespaar des Jahrhunderts" lesen.
Leseempfehlung für Fans von autofiktionalen Texten!
Das tolle Gemälde auf dem Cover stammt von der Künstlerin Tina Berning