Cover des Buches Mein Akku ist gleich leer: Ein Chat von der Flucht (ISBN: 9783944543222)
GertrudeBluemenkohls avatar
Rezension zu Mein Akku ist gleich leer: Ein Chat von der Flucht von Julia Tieke

Wir müssen Menschen bleiben. Nur das.

von GertrudeBluemenkohl vor 9 Jahren

Kurzmeinung: Ein syrischer Flüchtling erzählt seine Geschichte. Im Chat auf Facebook. Drastischer, unmittelbarer kann Literatur kaum sein.

Rezension

GertrudeBluemenkohls avatar
GertrudeBluemenkohlvor 9 Jahren

Es ist eine dieser Geschichten, die ohne das Internet gar nicht denkbar wären. Faiz kämpft in Syrien für Bürgerrechte und Pressefreiheit und muss plötzlich vor seiner Enthauptung durch die IS fliehen. Wochenlang versteckt er sich in mazedonischen Wäldern, sucht verzweifelt einen Weg über die Grenze und fürchtet um sein Leben. Sein einziger Kontakt zur Welt: Sein Handy. Facebook. Im Chat unterhält er sich mit Julia, die in Deutschland lebt. "Das ist ein Roman", tippt er in sein Handy. "Es ist alles ein Abenteuer oder ein Roman. Ich habe fast alles aufgeschrieben."


Mit "Mein Akku ist gleich leer: Ein Chat von der Flucht" erscheint im April 2015 ein ungewöhnliches E-Book beim Digitalverlag Mikrotext. Die Autoren Faiz und Julia Tieke veröffentlichen hier das Chatprotokoll eines syrischen Flüchtlings. Nichts ist Fiktion, es ist alles so passiert.

Romane brauchen Helden. Faiz ist einer. Im Chat mit Julia ringt er um die Definitionsmacht über seine Geschichte ("Wir müssen Menschen bleiben"). Er zweifelt ("Wir Syrer werden als Tiere betrachtet. In allen Ländern dieser Welt"). Julia antwortet ihm zärtlich ("Du bist ganz sicher ein Mensch"). Aber Faiz tröstet immer wieder auch Julia ("Mach dir um mich keine Sorgen"). Er erträgt Gefängnis und Schläge ("Es ist mein Schicksal"), er kapituliert ("Ich bringe mich um") und dann ... beginnt er doch wieder zu träumen ("Ab jetzt wird es für mich einfach"). Julia steht ihm bei, mit unglaublichem Feingefühl und Pragmatismus ("Pass auf dich auf, aber wer bin ich, dir das zu sagen?!").

Aus journalistischer und literarischer Sicht ist diese Publikation sehr spannend. Hier wird der private Chat eines Flüchtlings zum öffentlichen Fluchtprotokoll. Zum Echtzeitbericht. Der Flüchtling selbst wird darin plötzlich sichtbar. Er wird deutlich vernehmbar, endlich wieder zum Autor seiner Geschichte. Drastischer, unmittelbarer kann Literatur kaum sein. Und dann wäre da noch die Poesie. Über die lässt sich freilich streiten. Einer der ersten Sätze, die mir direkt in die Magengrube fahren, ist eine stenografische Aufzählung von Eindrücken: "Kälte, dreckiges Wasser, Lügner, Menschenhändler, Mücken." In meinen Augen ist das ein Gedicht, und kein schönes.

Faiz: Wir müssen Menschen bleiben. Nur das.
Julia: Ja.
Faiz: In dieser schrecklichen Welt.
Julia: Du bist ganz sicher ein Mensch!
Faiz: Ja.

Wenn Julia und Faiz sich aufeinander beziehen, in skeletthaft reduzierten Sätzen, schaffen sie genau das, was Literatur schaffen will: Sie schreiben gegen die Zustände an, sie schreiben gegen das Vergessen, für die Menschlichkeit. Sie schreiben sich selbst.
Angehängte Bücher und Autor*innen einblenden (2)

Was ist LovelyBooks?

Über Bücher redet man gerne, empfiehlt sie seinen Freund*innen und Bekannten oder kritisiert sie, wenn sie einem nicht gefallen haben. LovelyBooks ist der Ort im Internet, an dem all das möglich ist - die Heimat für Buchliebhaber*innen und Lesebegeisterte. Schön, dass du hier bist!

Mehr Infos

Hol dir mehr von LovelyBooks