Rezension zu "Marlena" von Julie Buntin
Rund ums Buch:
Autorin: Julie Buntin
Verlag: Eichborn
Buch: Hardcover
Seiten: 366
ISBN: 978-3-8479-0027-6
Preis: 22,00 €
Cover:
Ein viel zu sanftes Cover für diese erdrückende Geschichte. Es kommt überhaupt nicht rüber, was wir in dem Buch lesen werden. Ich würde an eine Liebesgeschichte denken, wenn ich nur das Cover und den Titel betrachten würde.
Inhalt:
Cat möchte gefallen und zwar Marlena, den Mädchen, was nun nebenan wohnt, als Cat mit ihrem Bruder und ihrer Mutter nach Northern Michigan in die schlichte Siedlung gezogen ist, um von ihrem Vater die nötige Distanz zu bekommen. Marlena lebt mit ihrem kleinen Bruder Sal und Vater in einem Schuppen, der Vater kocht Crystal Meth und der kleine Sal ist verwahrlost. Cat ist glücklich, hat endlich eine Freundin und verliert sich mit dieser, die den Drogen komplett verfallen ist, in eine Welt der Abhängigkeit.
Das Buch hat mich sehr mitgenommen, betroffen gemacht und trotzdem finde ich es gut. Es ist ein Spiegel der amerikanischen Kleinbürgerlichkeit, ein Zeitzeuge des Arm und Reich im Mittleren Westen der USA und ein Versuch, die Leben der Mädchen dort oben, wo die Winter lang und die Drogen leicht erhältlich sind, dem Leser näher zu bringen. Und Julie Buntin gelingt das auf eine sehr besondere Weise, denn es ist kein trashiges Roaddingsda, kein Abklatsch der vielen Geschichten verlorener Amerikaner sondern es ist ein sehr emotional angreifendes Buch, was mit schöner Sprache, auch wenn wir es mit Teenagern und der Sinnlosigkeit ihrer Leben zu tun haben, den Leser mitnimmt und fühlen lässt. Fühlen lässt, wie die Mädchen ihre Familie vermissen, beide haben keine richtige Familie mehr, denn bei Cat ist der Vater abgehauen, bei Marlene die Mutter verschwunden. Beide kämpfen sich durch die Schule, meistens schwänzen sie, um sich lieber mit Drogen vollzupumpen und stark zu fühlen. Und beide hängen ihren verlorenen Eltern nach, idealisieren sie, bis sie eines Tages eines Besseren belehrt werden.
„Als meine Eltern sich trennten, war mein Vater – ein beschürzter French-Toast-Koch, Schneeschuhträger, Scotchtrinker, Red-Wings-Fan und begnadeter Fänger, Umarmer und In-die-Luft-Werfer, bewundert von meiner Freundin Haesung, verachtet von meinem großen Bruder James und angebetet von mir – trotz gegenteiliger Beteuerungen schon lange nicht mehr stellvertretender Filialleiter bei Foodtown. Ihm war ungefähr vier Monate zuvor gekündigt worden. Zwar verließ er weiterhin morgens um acht das Haus, von Montag bis Freitag, doch er fuhr nicht zur Arbeit. Nach allem, was ich in Erfahrung bringen konnte, verbrachte er seine Tage im Bett von Becky, einer Kellnerin Mitte zwanzig, mit der er jetzt zusammenlebt. Die Scheidung meiner Eltern war unangenehm, aber überraschend kam sich nicht.“ (Seite 39)
Die Geschichte springt zwischen heute in New York, 20 Jahre später, als Cat erfolgreich und verheiratet ist, und sich mit Sal treffen wird, Marlenes kleinem Bruder, der mit ihr sprechen möchte. Cat ist immernoch abhängig, versucht sich dagegen zu wehren, es zu vertuschen.... Kurze Einblicke in das Jetzt wechseln sich mit der eigentlichen Geschichte von Marlena, von der wir ganz zu Beginn auch erfahren, dass sie tot ist, ab und erzählen, wie es war, mit ihr, der doch so verletzlichen und nach Zuwendung suchenden Marlena.
Auch, wenn wir es hier mit einer tristen, zukunftslosen Teenagerzeit zu tun haben, lesen wir auch wunderbare Abschnitte, in denen die Autorin die beiden Mädchen in eine für sie perfekte Welt schreibt. Die kleinen Momente, die beide so genießen.
„Eine beste Freundin ist etwas Magisches. Als hätte man einen Baumstumpf gefunden, in dem sich das Wasser des ewigen Lebens sammelt, oder als stünde man vor dem Kleiderschrank und im nächsten Moment in einem verschneiten Wald oder auf einer Weide voll grasender Einhörner. Nichts von dieser Freundschaft war für mich selbstverständlich, zu seltsam waren die Zufälle und zu leidenschaftlich die gesagten und die gedachten Schwüre, die zu ihrem Erhalt notwendig waren.“ (Seite 131)
Für mich ist dieses Buch noch besonders wertvoll, denn ich habe in den 90ern über ein Jahr in Michigan gelebt, kenne die Orte, kenne das Leben von damals dort und verstehe – auch wenn ich in den reichen Vororten gewohnt habe und die Trailerparks weit weg waren – wie es wohl war, damals für Cat, in dem Jahr mit Marlena.
Kein Buch für schwache Seelen, für jemanden, der ein Happy End sucht. Aber ein ehrlicher Spiegel auf die USA.... sehr ehrlich!